Oper:Die armen Leut'

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Mann in Not: Christian Gerhaher in der Rolle des Wozzeck wird zum singenden Schauspieler - und zum Frauenmörder. (Foto: Michael Pöhn/Wiener Staatsoper)

Simon Stone inszeniert an der Wiener Staatsoper Alban Bergs "Wozzeck" und zeigt dabei die Grenzen seines Bühnenrealismus' auf. Aber Christian Gerhaher brilliert.

Von Egbert Tholl

Für Christian Gerhaher, Sänger der Titelpartie, ist Alban Bergs "Wozzeck" die "schlechthin perfekte Oper". Nachlesen kann man dies im Programmbuch der Wiener Staatsoper zur Neuinszenierung durch Simon Stone. Sei schon in der Vorlage von Georg Büchner jedes einzelne Wort von "atomistischer Prägnanz", so habe Berg durch seine Musik die Sprache noch einmal klanglich präzisiert, heißt es da. Bei Büchner gebe es kein Wort, bei Berg keinen Ton zu viel. Welche Auswirkungen dies auf die Interpretation der Partie hat, hat Gerhaher bereits bei seinem Rollendebüt an der Oper Zürich vor sechseinhalb Jahren bewiesen. Damals beschritt sein Wozzeck einen ausweglosen Weg zur Mordtat, begleitet von harten und krassen Ausbrüchen, dazwischen immer wieder hemmungslos lyrisch, ganz zart und weh.

Das Durchdenken und Ausinterpretieren auch noch der kleinsten Nuance verstärkt Gerhaher nun in Wien sogar noch. Eine der ganz großen Leistungen Alban Bergs ist es, mit dem "Wozzeck" die wohl erste Oper geschrieben zu haben, deren Dialoge in Sprechtheatergeschwindigkeit ablaufen.

Das heißt, es gibt nicht mehr dieses in seiner Künstlichkeit operntypische Aus-der-Zeit-fallen, das minutenlange Ausruhen auf einem Gefühl. Jede Äußerung, von den paar eingebauten Liedern einmal abgesehen, hat ihre Wahrheit und ihre Aussage im und für den Moment, in dem sie getätigt wird. Und Gerhaher, nie ein nur um des Glanzes willen auftrumpfender Sänger, wird dabei zum singenden Schauspieler, der immer wieder annähernd jede Sanglichkeit, aber nie den Klang aus den Worten nimmt, von denen er jedes einzelne mit äußerstem Bewusstsein setzt.

Ansatzlos kann er wild opernhaft ausbrechen, wenn die Not seiner Figur dies erfordert. Aber noch berückender ist sein Singsprechen oder Sprechsingen. Ein winziges Beispiel: Verabschiedet sich Wozzeck in der Szene von seiner Marie, in der diese die Ohrringlein bewundert hat, die ihr der Tambourmajor schenkte, lautet sein letztes Wort "Adies". Dieses "Adies" hat bei Gerhaher hundert dunkle Grautöne, ist schwebendes Sinnieren und finstere Vorahnung zugleich. Das hat eine herrliche Feinheit, das erzählt eine ganze Welt.

Dirigent Philippe Jordan entfacht eine Lautstärke, die nichts anderes als eine Zumutung für die Solisten ist

Das Dumme ist nur, dass Gerhaher und seine singenden Kollegen hier auf das Orchester der Wiener Staatsoper und deren Musikdirektor Philippe Jordan treffen. Dessen Eigenwilligkeit beginnt damit, dass der Graben sehr weit hochgefahren ist. So kann man zwar ausgiebig Jordans elegante Gestalt bewundern, ist aber auch dem Klang des Orchesters rettungslos ausgeliefert. Freilich, gestalten könnte man dennoch, aber Jordan begreift, was nicht völlig illegitim ist, Bergs Musik als Appendix des spätromantischen Zeitalters, was nun leider dazu führt, das er sich auf einem voluminösen Klang ausruht und dabei die detaillierte Prägnanz der Musik völlig außer Acht lässt. Vermutlich zielt er auf die Überwältigung durch die vielen rein instrumentalen Bindeglieder, die Berg zwischen die Szenen baute. Doch auch in den Szenen selbst entfacht Jordan eine Lautstärke, die nichts anderes als eine Zumutung für die Solisten ist. Jörg Schneider geht als lyrischer Hauptmann darin unter, andere wie der furchterregende Dmitry Belosselskiy als Doktor, die beiden Handwerksburschen Peter Kellner und Stefan Astakhov, der wendige Josh Lovell als Andres und die grandios souveräne Anja Kampe behaupten sich mit Macht gegen dieses Dirigat, so gut es geht.

Wiener Armuts-Realismus: Wozzeck (Christian Gerhaher) unter Obdachlosen an der U-Bahn-Station Wien-Simmering. (Foto: Michael Pöhn/Wiener Staatsoper)

Das Ärgerlichste aber ist, dass Jordans musikalische Auffassung diametral gegensätzlich zur Regie steht. Simon Stone, der Hyperrealist unter den Schauspiel- und seit einigen Jahren auch Opernregisseuren, will Geschichten grundsätzlich in der Lebensrealität erzählen, die die Zuschauer kennen. Hier gibt es nun einen Würstelstand, der Käsekrainer anbietet, nun, das kennt man in Wien. Der Schlafsaal der Kaserne ist das Nachtlager Obdachloser in der U-Bahn-Station Simmering, das dürfte Besuchern der Wiener Staatsoper schon weniger vertraut sein.

Am Ende steht ein Femizid. Der gebeutelte Wozzeck mordet wie im "Tatort"

Doch anders als in seinen jüngsten Theaterarbeiten ist hier die Bühne von Bob Cousins kein geschlossenes, detailliert erbautes Abbild einer Realität; eher ist sie eine Sammlung naturalistisch gestalteter Verweise auf Aspekte einer uns umgebenden Lebenswirklichkeit. Diese können durchaus disparat sein und erhalten auch eine zunehmend surreale Note. Die Rasierszene, die die Oper eröffnet, spielt in einem kargen Friseursalon, der Hauptmann ist nicht der einzige Kunde. Dann dreht sich die Bühne, sie wird kaum mehr still stehen, und Stone erfindet die sinnigste Szene des Abends. Es ist jene, in der der von Albträumen geplagte Wozzeck und sein Freund Andres Stöcke schneiden. Die ist stets ein großes Rätsel, hier nicht. Die beiden stehen in einer langen Schlange vor dem Arbeitsamt, die sich um ein paar Häuserecken windet, und jeder Albtraum wirkt auf einmal völlig nachvollziehbar angesichts einer hier überdeutlich realen, finanziell ausweglosen Situation.

Überhaupt inszeniert Stone die Oper ausgehend von der oft wiederholten Äußerung "wir arme Leut". Wobei, so arm schaut es bei Marie daheim gar nicht aus, aber Wozzeck schleicht herum wie ein Paketbote ohne Auftrag, sieht mehrfach hintereinander Marie beim fremden Sex im Bett - der Tambourmajor ist ein Polizist, die Staatsmacht knechtet den armen Wurm. Vieles stimmt also, aber die Bühnenrealität nimmt der Geschichte jede Aura von etwas Größerem. Am Ende steht ein Femizid in freier Natur, der verdruckste, unsichere, gebeutelte Wozzeck mordet wie im "Tatort". So grausam das anzusehen ist, so klein macht es Bergs Meisterwerk.

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