Wolfram Lotz "Heilige Schrift I":Was für ein Glück

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"Peter Handke hat jetzt doch keine Lust, im Wald wandern zu gehen, weil es immer noch regnet, die ganze Zeit, das ist Peter Handke einfach zu nass." - Wolfram Lotz, geboren 1981, wuchs im Schwarzwald auf. (Foto: Jürgen Beck/S. Fischer Verlag)

Der Dramatiker Wolfram Lotz hat ein Jahr lang "alles" aufgeschrieben - und den Text dann gelöscht. Nun wurde er doch gedruckt, als "Heilige Schrift I".

Von Christiane Lutz

Die chu-chuenden Tauben kann er nicht weglassen. Die scheue rote Katze nicht, um deren Zuneigung er buhlt. Auch der Kürbiskern gehört dazu, der auf dem von ihm reservierten Platz im ICE liegt. Auch nicht die Natur, die sich ihm aufdrängt und in der zum Glück gerade ein Schokoriegelpapier liegt, sonst wäre das Idyll ja nicht auszuhalten. Muss alles rein in das Total-Tagebuch.

Ein Jahr lang wollte der Dramatiker Wolfram Lotz über "alles" schreiben und schauen, was so passieren würde, mit dem Text und mit ihm. Im Sommer 2017 war er in ein Kaff im Elsass gezogen, weil seine Frau dort einen Job angenommen hatte. Zwei kleine Kinder, ein paar Bücher und sehr viele Weinberge. So schlich er mit Notizbüchern umher, schrieb die Dinge so unmittelbar wie möglich auf. Er zog sich aufs Klo zurück, wenn ein Gedanke drängte. Als "Selbstgespräch am offenen Fenster" stellte er das Experiment vor, ein durchlässiges Schreiben, offen und für Fehler. Dem Text mal ganz die Kontrolle übergeben und bloß nicht auf irgendeine Art von Veröffentlichung schielen. 2018 im Sommer vollendete er das Werk - und löschte es. Und nun liegt sie trotzdem da, die "Heilige Schrift I."

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Wie geht das zusammen? Erst die maximale Unischtbarmachung und dann die Fanfare, hier sind 912 Seiten, liebe Leser? Denn wenn man eins begriffen hat nach diesen 912 Seiten: Wolfram Lotz scheint kein impulsiver Typ. Wenn man diese Frage an den Verlag mailt, ist man plötzlich mittendrin im Offenheits-Experiment von Wolfram Lotz. Er ruft an.

Lotz ist witzig, schnell, luzid - und überhaupt nicht effizient. Obwohl mit Preisen überhäuft, veröffentlicht er nur wenig

Er wolle das kurz selbst erklären. Er weiß, dass das nach guter PR aussieht: Der hadernde Künstler, der überredet werden musste, sein gelöschtes Werk zu retten, was überhaupt nur geht, weil er den ersten Teil rechtzeitig an einen Freund gemailt hatte. Ein bisschen Kafka und Max Brod? Nein, es habe sich einfach genau so zugetragen, versichert Wolfram Lotz.

Gelöscht habe er, weil das Projekt von Tag zu Tag unkontrollierbarer wurde und er das Gefühl hatte, sich von einem Monster befreien zu wollen. Gelöscht habe er auch, um das Tagebuch einer möglichen Veröffentlichung zu entziehen, weil er sich sonst, wie er sagt, gern mal "bequatschen" lässt von anderen. Und jetzt hat er sich, nun ja, bequatschen lassen. Zum Glück. Denn die "Heilige Schrift I" ist, um begrifflich in Lotz' bevorzugtem Habitat zu bleiben: ganz großes Theater. Was auf den 912 Seiten passiert, ist Poesie, Prosa, feinster Humor, schönster Quatsch.

Wolfram Lotz, Jahrgang 1981, ist einer der wichtigsten deutschen Dramatiker der Gegenwart. Mit "Die lächerliche Finsternis" schrieb er gewissermaßen Joseph Conrads "Herz der Finsternis" fürs Theater, in "Die Politiker" (2019) reißt er die Zuschauer in einem rhythmischen Sprechgedicht in die Abgründe der Politikerseele. Lotz ist witzig, schnell, luzid - und überhaupt nicht effizient. Obwohl mit Preisen überhäuft, veröffentlicht er nur wenig. Selbstverständlich hat sich das Theater da die "Heilige Schrift I" längst unter den Nagel gerissen, am 14. Mai ist Uraufführung an den Münchner Kammerspielen als "immersive Installation", inszeniert von Falk Richter.

Schreiben ist für Wolfram Lotz Selbstzweck, seine Art, sich der Gegenwart zuzuwenden. "Schreiben, Text, Verwandlung: Die Schrift heiligt mir hier die Dinge, den profanen Lebenskram, erst dann sehe ich sie wirklich, sind / waren sie da; erst dann bin ich HIER". "Heilige Schrift" meint also eigentlich nicht das Dokument selbst (die kleine Provokation natürlich trotzdem gern in Kauf genommen), sondern den Vorgang des Übertragens seiner Wirklichkeit in Schrift. In welche Daseinsform es einen Text danach treibt, ist nebensächlich: "So entwickelt sich ja auch guter Text im Schreiben: In dem die Form vorher noch nicht gewusst ist, sondern indem einer einer ästhetischen Ahnung nachgegangen wird".

Schnell wird man beim Lesen hineingesogen in den Strom aus Notizen, Mini-Dramen, Aphorismen, Wortschöpfungen und Gedichten

Schnell wird man beim Lesen dieses "profanen Lebenskrams" hineingesogen in den mäandernden Gedankenstrom. Folgt Lotz beim Familienalltag, Nachtspaziergängen, "Hier im Dorf tobt das Weinfest". Auf ICE-Fahrten schreibt er immer, klar, da ist ja Zeit: "Zug kommt pünktlich, obwohl er ausfallen sollte ist doch toll." Lotz hadert mit dem Theater, mit dem Literaturbetrieb, mit dem Schreiben. Schnell die Einkaufsliste notiert und dann: "zur Schule, im Andings des Morgendings". In Notizen, Mini-Dramen, Aphorismen, Wortschöpfungen und Gedichten faltet er Tag um Tag sein geschriebenes "alles" weiter auf. Im Herbst 2017 ist Donald Trump noch Präsident der USA, die Berliner Volksbühne ist besetzt und die New York Times veröffentlicht Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein. Das liest sich zwar wie Notizen aus einem anderen Universum, ist aber weniger Lotz als mehr dem Wahnsinn der Gegenwart anzulasten.

Verwandlungsverliebt probiert er andere Rollen an, geht als Annette von Droste-Hülshoff ans Telefon, lässt Peter Handke, Durs Grünbein und Miley Cyrus für sich Dinge erledigen: "Peter Handke hat jetzt doch keine Lust, im Wald wandern zu gehen, weil es immer noch regnet, die ganze Zeit, das ist Peter Handke einfach zu nass." Für alle hegt er eine große Begeisterung, im Fall Miley Cyrus vor allem dafür, dass sie in totaler Unkontrolle auch Hochnotpeinliches hervorbringt. Er interessiert sich in der Kunst für Abweichungen, vielleicht, weil: "Der realistischste Text kann nur durch Fehler entstehen."

Wolfram Lotz: Heilige Schrift I. S. Fischer, Frankfurt 2022. 912 Seiten, 34 Euro. (Foto: S. Fischer)

Ein Missverhältnis zwischen Anspruch und Umsetzung entsteht notgedrungen bei der Frage, welches "alles" Lotz da eigentlich meint. Denn natürlich ist "alles" nicht "alles". Jeder Autor, der autofiktionale Literatur schreibt, steht vor dem Problem, wo er Grenzen zieht. Emmanuel Carrère löste das Dilemma, indem er für sein Schreiben einen eigenen Wahrheitsbegriff definiert. Karl Ove Knausgård geht in seinen Büchern in die Maixmaloffensive und kriecht noch in die hinterletzte Haarspitze seiner Mitmenschen, um bloß "alles" zu erwischen, was in Konsequenz nicht selten die totale Selbst- und Fremdentblößung bedeutet.

Lotz hat für sich folgende Formel gefunden: Private Gespräche bleiben privat. Niemand, der ihm nahe steht, soll Seelenfledderei fürchten. Nur seine beiden Söhne, O und E, schweben alle paar Szenen wie zwei freundliche Störenfriede durch den Autorenalltag. Über sie, beschließt er, will er schreiben, weil sie in 20 Jahren vermutlich wenig mit den Kindern gemein haben werden, die gerade fröhlich "Donald Trump" skandierend durchs Haus marschieren.

Keine Zeile sei lektoriert, nur Tippfehler durften korrigiert werden

Die Beziehung zu N, seiner Freundin, Mutter seiner Söhne aber findet nicht statt. Kein Streit, kein Sex, keine Ahnung, was N eigentlich denkt über das Tagebuch-Projekt. Was vor allem deshalb auffällt, weil Lotz ja gerade die große Offenheit beschwört. Er benennt es selbst: "Und wie ich dann, mit einer gewissen Traurigkeit, dachte, wie schade es ist, dass das Verhältnis zwischen ihr und mir hier völlig ausgespart bleibt", schreibt er. Und dann: "Weshalb ich das hier auch so anti-knausgardig praktiziere; was für eine Verachtung dieser Dinge es ist, des Lebens, es bis ins Geheimste veräußern zu wollen".

Die Offenlegung der Leerstellen, die Durchlässigkeit, der Anruf - das passt zum neuen Selbstverständnis vieler Autoren, auch vieler Theatermacher, nach dem gar nicht mehr behauptet wird, ein poliertes Endprodukt abzugeben, oder gar irgendeine Art von "richtig" für sich zu beanspruchen. So bleibt einerseits immer Hintertürchen offen, und wo keiner behauptet hat, so sei es richtig, entzieht sich ein Werk gewissermaßen auch der Kritik. Andererseits schafft diese Durchlässigkeit, wie im Falle von Wolfram Lotz, ein flirrendes Werk von großer Glaubwürdigkeit.

Keine Zeile, versichert Wolfram Lotz noch am Telefon, sei lektoriert, nur Tippfehler durften korrigiert werden. Das war eine seiner Bedingungen für die Veröffentlichung des Textes. So bleibt er ein großer Steinbruch, assoziativ, roh, offene Enden überall. Und doch: Diesem Buch fehlt absolut nichts. Der Kraft und dem Charme von Wolfram Lotz' "Heilige Schrift I" kann man sich kaum erwehren, warum sollte man das auch wollen? Nur einen Teil II, den wird es nicht geben. Denn der, sagt Lotz, sei wirklich unwiderruflich gelöscht.

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