Der Autor, von dem gesagt wurde, er schreibe Stücke von sagenhaftem Größenwahn, sitzt schmal und groß vor einem lächerlich kleinen Bier in einem Café in der Altstadt eines elsässichen Ortes, der eigentlich nur aus Altstadt besteht, aus Blumenkübeln und Storchennestern und, seit er einen Wikipediaeintrag hat, auch aus unverhältnismäßig vielen Touristen. Wolfram Lotz sieht ein bisschen müde aus, aber er redet so gern über das Schreiben, dass ihm die Müdigkeit egal ist.
Lotz, 38, wird seit seinen Stücken "Einige Nachrichten an das All" und "Die lächerliche Finsternis" weithin für den besten Dramatiker der deutschsprachigen Theater-Gegenwart gehalten, dann hat man lange nichts von ihm gehört, jetzt wurde im Deutschen Theater in Berlin sein neuer Text "Die Politiker" uraufgeführt. Seine Frau hat für ein paar Jahre eine Stelle in Colmar angenommen und deswegen wohnt er seit zwei Jahren mit ihr und den Kindern in einem kleinen Ort in der Nähe. Als die Entscheidung fiel, hatte er gerade eine Schreibkrise, wobei Lotz von sich selbst sagt, dass die Schreibkrise sein Dauerzustand ist.
Nach dem Erfolg, der erst einmal ausgehalten werden wollte, kam der Umzug in das französische Dorf gerade recht. Das, was Wolfram Lotz "dieser komische Erfolg" nennt, bemisst sich einerseits an unzähligen Ehrungen: der Kleist-Förderpreis, der Nestroy-Preis, er war "Nachwuchsautor des Jahres" der Kritikerumfrage von Theater heute und dann "Dramatiker des Jahres". Seine Stücke wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt, "Die lächerliche Finsternis" und "Einige Nachrichten an das All" wurden allein im deutschsprachigen Raum bisher jeweils um die fünfzig Mal inszeniert.
Der Erfolg bemisst sich andererseits aber auch an den Texten selbst. Die große Leistung seiner Stücke bestand darin, das politische Denken ins Theater zurückzuholen, ohne das ästhetische Denken dafür aufzugeben. Das Stück "Die lächerliche Finsternis" in dem zwei orientierungslose deutsche Soldaten auf einem Floß "den Hindukusch" hinauffahren ist ein gutes Beispiel: Das Stück ist gleichzeitig ein Zitat von Joseph Conrads "Herz der Finsternis", stellt seine Zitathaftigkeit auch aus, und diskutiert trotzdem die Frage, was deutsche Soldaten eigentlich in Afghanistan verloren haben. Diese Verbindung aus ironischer Selbstreferenzialität und intelligentem politischen Essayismus, die war 2014 neu im deutschen Theater. Lotz hatte zwei ästhetische Ansätze fusioniert, die bis dahin als unvereinbar galten.
Die Intendanten haben gefragt, ob er nicht das gleiche Stück nochmal schreiben könnte
Lotz' Texte sind deswegen so gut, weil er in ihnen das Banale und das Existentielle verbindet, ohne ins Theoretische abzudriften. Wenn Bojan Stojković, eine Figur aus "Die lächerliche Finsternis", zum Beispiel erzählt, dass er unbedingt eine Markise am Haus haben wollte und deswegen mit seiner Frau stritt, stellt Lotz damit menschliche Unnachgiebigkeit an einem alltäglichen Ehestreit dar. Und beschreibt dann im nächsten Satz, wie das mit der Markise ausgeht: Ein Nato-Bomber wirft im Kosovokrieg eine Präzisionsbombe ab, die Markise fängt Feuer und dann das Haus. Frau und Kind verbrennen im Keller und Stojković schimpft auf die vermaledeite Markise: "Meine Nachbarn sind ja auch nicht gestorben, obwohl Krieg war und es war ja immer Krieg. Nur meine Familie ist verbrannt, weil wir an unserem Haus die Markise hatten. Weil ich unbedingt diese Markise haben musste." Und weil es bei Lotz, bevor es traurig wird, immer ziemlich komisch ist, weiß man nicht, ob man lachen muss, oder vielleicht muss man doch eher weinen, und so muss man schließlich beides bleiben lassen und immer weiter lesen.
Seit "Die lächerliche Finsternis", hat Wolfram Lotz kein Stück mehr geschrieben. Die Intendanten hätten danach noch bei ihm angerufen und gefragt, ob er nicht das gleiche Stück nochmal schreiben könnte, die "finstere Lächerlichkeit", zum Beispiel, sagt Lotz, aber das wollte er nicht."Natürlich hätte ich das machen können, das Stück nochmal schreiben", sagt Lotz. "Aber ich weiß auch, dass es ganz schlecht geworden wäre, weil ich mich dann brachial gelangweilt hätte."
Bei der Vorstellung, ein ähnliches Stück wie "Die lächerliche Finsternis" noch einmal zu schreiben, windet Lotz sich derart, dass man meinen könnte, ihm sei sehr übel, deswegen glaubt man ihm. Lotz ist einer, der nicht anders kann, als es sich schwer zu machen, zumindest beim Schreiben, der nicht kokettiert, sondern permanent reflektiert, und das bringt ihn an den Rand der Selbstzerstörung.
Als Lotz im Elsass ankam, 2017, nahm er sich vor, ein Tagebuch zu schreiben, auch ein bisschen, weil er nicht wusste, was er sonst schreiben sollte. Ein "Totaltagebuch" wurde es. Lotz stand um acht Uhr morgens auf und schrieb Laternenpfähle, Hühner, Weinberge in das Tagebuch, und alles, was ihm dazu einfiel. Bis nachts um eins, mit einer Pause für die Familie am Nachmittag, eine "Wahnsinns-Struktur", sagt er, "die brauche ich aber einfach. Ich bin jetzt nicht total irre geworden dabei, aber gegen Ende wurde es schwierig", das gibt er zu. "Irgendwann wusste ich nicht mehr, was ich schon geschrieben hatte und was nicht, oder wem ich was erzählt hatte. Oder was ich jetzt eigentlich geschrieben und was ich nur gedacht habe."
Nachdem das Jahr 2018, das Jahr des Totaltagebuchs, vorüber ist, beginnt Lotz wieder an einem Text zu arbeiten, den er davor bereits angefangen hatte. "Die Politiker" ist kein wirkliches Theaterstück in dem Sinne, dass es eine dramatische Handlung hätte. Es ist ein Gedicht, das gesprochen werden muss, es gibt keine dramatischen Figuren. Nur Text und eine feine, kaum wahrnehmbare Dramaturgie, die allerdings so zart ist, dass man nicht weiß, ob im Theater überhaupt noch etwas davon übrig bleibt.
Das, was er sein "Hauptwerk" nennt, hat er zu großen Teilen vernichtet
Der Regisseur Sebastian Hartmann hat in seiner Uraufführung am Deutschen Theater das Stück als Epilog hinter Shakespeares "König Lear" gesetzt. Kaum ein Wort hat Hartmann von "Die Politiker" für die Inszenierung gestrichen, von "King Lear" dagegen viel. Doch obwohl der Text einem bei der Lektüre wahnsinnig auf die Nerven geht, auch weil es eigentlich ein "Theatergedicht" ist, wird er noch als Buch veröffentlicht. Über dessen Erfolg macht sich Lotz keine Illusionen. "Ein Theatergedicht zu verkaufen, das ist ja, wie wenn du auf einer Speisekarte im Restaurant ,Kotzgrütze' stehen hast. Also was für wirklich echte Liebhaber." Politisch ist der Text natürlich wieder, nicht nur wegen des Titels. Lotz kritisiert die allgegenwärtige Isolations- und Abschottungspolitik und überträgt sie auf das Private, das Zuhause des Einzelnen: "Die Politiker sind mittel bis groß / nein nein / klein sind nur / die kleinen Leute / streichen um das Haus/ passt auf! / Den Politikern sind die kleinen Leute egal / und mir und euch doch auch! / Geh doch schuften, kleiner Mann / wen interessiert's / geh doch buckeln kleiner Mann / geh ruckeln, kleiner Mann, geh zuckeln".
Außerdem gibt es: Adolf Hitler, die Frage nach dem Tod und eine Katze, die an einer Tür kratzt. Lotz versammelt in seinem Stück Themenkomplexe, die scheinbar meilenweit auseinander liegen, mit einer Leichtigkeit, von der man ahnt, dass sie nur so leicht wirkt, weil eine irre Arbeit dahintersteckt: die Dauerkrise. Willkürlich ist in diesem Gedicht nichts angeordnet, und obwohl es wirkt wie ein assoziativer Gedankenstrom, ist es doch genau auf den Punkt getroffen: Die, die sich entfernt haben vom Menschen, das sind nicht die Politiker, das sind du und ich und Wolfram Lotz im Elsass.
Das wahnsinnige Tagebuch, das er geschrieben hat, ohne das es "Die Politiker" nicht gäbe, existiert übrigens nicht mehr. Nach dem Jahr, in dem er alles aufgeschrieben hatte, hat er das Dokument gelöscht. Das, was Lotz sein "Hauptwerk" nennt, hat er zu großen Teilen vernichtet und findet das auch nicht schlimm. Er musste das tun, sagt er, da ist sie wieder, die Selbstzerstörung. Er habe sich gefragt, warum ausgerechnet er das machen dürfe, jeden Tag aufschreiben, "von einem anderen würde man es ja auch nicht lesen, ein anderer dürfte das doch auch nicht erzählen".
Lotz, eine Art Apotheken-Turnsäckchen auf dem Rücken, schlägt dann noch einen Spaziergang in die Weinberge vor, die er in den vergangenen Jahren so oft in seinen Tagebuch- und Schreibpausen besucht hat, weil es da wirklich schön ist. Als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er vorher ein bisschen viel über die Blumenkübel und die Störche und das Dorf geschimpft hat, vor allem über die Störche, "denen die Dorfbewohner so in den Arsch kriechen".
Man könnte ewig so weitererzählen, und würde trotzdem, das zeigen die Stücke des Autors Wolfram Lotz, nie ein vollständiges Bild des Menschen Wolfram Lotz erhalten: Die Figuren in seinen Texten treten immer in Form der Geschichten auf, die sie dem Publikum von sich erzählen, egal, ob es Rudolph Moshammer, Thilo Sarrazin oder ein somalischer Pirat ist. Oder eben eine Figur namens "Wolfram Lotz". Vor allem aber geht es darum, dass das Bild, das man von ihnen bekommt, nie fertig ist. "Das ist vielleicht das, was mich wahnsinnig macht. Dass dem immer noch was hinzuzufügen ist", sagt Lotz, und es ist wahrscheinlich auch das, was ihn so über seinen Erfolg staunen lässt - dass immer so getan wird, als habe er jetzt die eine, beste, richtige Geschichte gefunden.
"Aber ich hab doch gar nicht die Erzählung, die stimmt", sagt Lotz. Was bleibt einem da anderes übrig, als weiter zu schreiben.