Wiener Volkstheater:Nicht zu beneiden

Lesezeit: 3 min

Wenig Geld, wenig Publikum, dafür Pandemie und Dauerbaustelle: Am Wiener Volkstheater ist Intendant Kay Voges gestartet.

Von Wolfgang Kralicek

Obwohl das Stück "Einsame Menschen" heißt, sind die Menschen darin nie allein. Aber genau das ist ja das Thema in Gerhart Hauptmanns frühem Drama von 1890: Nie ist der Mensch einsamer als unter Menschen, die ihn nicht verstehen. Der Privatgelehrte Johannes Vockerath, der sich mit Frau und Baby in ein Haus am Müggelsee bei Berlin zurückgezogen hat, ist am einsamsten von allen. Seine gottesfürchtigen Eltern verstehen nicht, dass er vom Glauben abgefallen ist; seine Frau Käthe versteht nichts von seinen philosophischen Schriften; und niemand versteht, dass er seine Tage nur noch mit der zufällig ins Haus geschneiten Studentin Anna verbringen mag.

Im Wiener Volkstheater inszenieren Jan Friedrich und Kay Voges das Stück auf einer fast leeren Bühne, Theaternebel und harte Lichtwechsel strukturieren die Szene. Der anämische Johannes (Nick Romeo Reimann) ist den Frauen um ihn herum nicht gewachsen. Käthe (Anna Rieser) steht die längste Zeit, das Baby im Arm, wie eine Madonnenstatue herum und verbreitet entsprechend schlechtes Gewissen; Mutter (Anke Zillich) bemuttert den erwachsenen Sohn mit gusseisern-gnadenloser Freundlichkeit; Anna (Gitte Reppin) ist in dieser Gesellschaft nicht nur wegen ihres knallgelben Kleids unübersehbar ein Fremdkörper. In dem Moment, als Johannes in ihr eine Gleichgesinnte erkennt, regnet es Manuskriptseiten vom Himmel, und aus der Tonanlage krächzt eine verzerrte Version von Lou Reeds "Perfect Day". Später wird dann auch "Eleanor Rigby" von den Beatles zu hören sein: "Ah, look at all the lonely people ..."

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Niedriger als der Etat ist nur die Auslastung

Das Volkstheater wird seit dieser Spielzeit von Kay Voges geleitet, "Einsame Menschen" ist die dritte und bisher beste Inszenierung seiner jungen Direktion. Der 49-Jährige, davor erfolgreicher Intendant des Schauspiels Dortmund, ist um den neuen Job nicht unbedingt zu beneiden. Erstens ist eine Pandemie ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um eine Intendanz zu starten. Und zweitens ist es ohnehin keine einfache Aufgabe, diese Bühne zu übernehmen. Das Volkstheater ist ein permanenter Problemfall, die Krise sein Normalzustand. Mit seinen 832 Sitzplätzen ist es fast so groß wie das Burgtheater, hat aber nur ein Drittel von dessen Etat zur Verfügung. Und es kann - anders als das bürgerliche Theater in der Josefstadt, das dritte große Schauspielhaus der Stadt - auf keinen treuen Abonnentenstamm bauen, sondern muss für jede Vorstellung im freien Verkauf Hunderte Karten absetzen. Lange Zeit war das Volkstheater deshalb eine kleinbürgerliche Variante der Burg, mit einem Spielplan ohne allzu große Ambitionen und einem biederen Ensemble, das mit Publikumslieblingen in Gastrollen aufgepeppt wurde.

Pandemie, Generalsanierung: Kay Voges konnte erst jetzt starten

Als Voges' Vorgängerin Anna Badora 2015 Intendantin wurde, war sie so ehrgeizig, es mit der übermächtigen Konkurrenz des Burgtheaters aufzunehmen. Aber trotz einiger richtig guter Inszenierungen ist sie letztlich in Ehren gescheitert: In den fünf Jahren ihrer Intendanz gelang es nicht, ihr Theater in der Stadt durchzusetzen; die Auslastung lag zuletzt nur noch bei knapp über 50 Prozent. Die Suche nach einer Nachfolge erwies sich als kompliziert: Die Findungskommission unterbrach den Findungsprozess mit dem Hinweis darauf, dass die geringe Dotierung das Haus für interessante Bewerber unattraktiv mache - worauf die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler die Subvention der Stadt um zwei Millionen Euro erhöhte. Schließlich fand sich in Kay Voges dann doch noch ein renommierter Intendant, der sich des Volkstheaters annehmen wollte. Im Amt ist er eigentlich bereits seit mehr als einem Jahr; dass seine Direktion erst jetzt startet, hat aber nur zum Teil mit der Pandemie zu tun: Wegen einer seit Langem geplanten Generalsanierung des Theaters hätte Voges ohnedies erst im Januar diesen Jahres loslegen sollen.

In Dortmund wurde Kay Voges für sein digitales Theater gefeiert, in Wien musste er erst mal die Pandemie und Sanierungsarbeiten aussitzen. (Foto: Lukas Beck)

Anfang September war es endlich so weit, die Intendanz Voges wurde mit "Die Politiker" von Wolfram Lotz eröffnet. Der "Sprechtext" ist kein Drama, sondern ein 100 Seiten langes Gedicht, dessen Verse überwiegend mit "Die Politiker ..." beginnen; formal virtuos durchkomponiert, inhaltlich zwischen Politsatire und Medienanalyse, privater und globaler Perspektive, Gesellschaftskritik und Selbstreflexion oszillierend. Mit den Freiheiten, die der Text dem Theater eröffnet, wusste der Regisseur Voges allerdings wenig anzufangen; hauptsächlich schien der Abend dazu zu dienen, das Ensemble vorzustellen; die meisten neuen Schauspielerinnen und Schauspieler hat Voges aus Dortmund mitgenommen, aber auch Samouil Stoyanov - unter Matthias Lilienthal Publikumsliebling an den Münchner Kammerspielen - ist jetzt am Volkstheater engagiert. Handwerklich war die Inszenierung tadellos gearbeitet, und dass im Zuge der Sanierung die Bühnentechnik erneuert wurde, merkte man ihr auch an; als programmatische Ansage aber hinterließ die Eröffnungspremiere einen diffusen Eindruck: Was wollte uns Voges damit sagen?

Auch die zweite Premiere, die von Sascha Hawemann inszenierte Dostojewski-Adaption "Erniedrigte und Beleidigte", war eine gute Aufführung - aber nicht der Knaller, auf den immer noch alle warteten. Erst der starke Hauptmann-Abend "Einsame Menschen" vermittelt nun eine Ahnung, wofür das neue Volkstheater stehen könnte: für hochartifizielles, modernes Schauspiel; für ästhetisch avancierte, technisch perfekt gemachte Inszenierungen. In dieser Form gibt es so ein Theater in Wien nicht. Jetzt muss sich dafür nur noch das passende Publikum finden.

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