Serie "Welt im Fieber": Japan:Rot angestrahlt

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In Rot soll die Rainbow Bridge in Tokio zu mehr Wachsamkeit aufrufen. (Foto: imago images/AFLO)

In Japan ist der Ausnahmezustand zwar beendet. Trotzdem ähnelt ein Ausflug ins Kaufhaus dem Besuch einer Sciene-Fiction-Welt.

Gastbeitrag von Sayaka Murata

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Der Ausnahmezustand ist beendet, die Geschäfte in der Nachbarschaft machen nach und nach wieder auf, meine Freunde gehen wieder ins Büro. Einige sagen, sie fühlen sich unsicher in den vollen Bahnen.

Während des Ausnahmezustands erreichten mich verschiedene ernstlich beunruhigende Botschaften von Freundinnen. Die Kindergärten hatten zu, der Mann war im Home-Office, und sie drohten unter der Last der Kinderbetreuung, der Hausarbeit und der Ansprüche ihrer Ehemänner zusammenzubrechen.

Heute gestand mir eine Freundin sogar schuldbewusst, sie habe vor lauter Erschöpfung auf Tiefkühlkost zurückgreifen müssen. Ich fragte mich, warum sie sich Vorwürfe wegen der Tiefkühlkost machte, und warum sie alles alleine machen musste, obwohl ihr Mann zu Hause war, aber ich konnte meine Freundinnen, die am Ende ihrer Kräfte waren, ja nicht anstacheln, zu diskutieren, zornig zu werden und zu kämpfen, und hörte nur mitfühlend zu. Es ist furchtbar, wenn Kinder und Erwachsene in ihrem Zuhause eingesperrt sind. Rastet jemand aus, ist es schwieriger denn je die Flucht zu ergreifen.

Alles war seltsam

Vor einigen Tagen flog eine Bekannte nach ihrem zweijährigen Aufenthalt in Japan in ihre Heimat zurück, und ich wollte ihr unbedingt eine Kleinigkeit zum Abschied schenken. Es war nicht mehr genug Zeit, etwas im Internet zu bestellen. Das Kaufhaus meiner Wahl hatte nur einen Eingang geöffnet. Ich desinfizierte mir die Hände, meine Temperatur wurde gemessen, und ich ging hinein.

Wie vor dem Eingang waren auch innen kaum Leute. Die Verkäuferinnen trugen Mundschutz und Visier, und transparente Plastikplanen hingen über die ganze Verkaufsfläche verteilt von der Decke. Alles mutete fremdartig an und ganz anders als sonst, wie in einer Science-Fiction-Welt. Ich kaufte eine kleine bestickte Brosche und machte mich sogleich davon. Nicht dass so ein Überkorrekter mich entdeckte und umbrachte. Da ich das erste Mal seit langem meine Wohnung verlassen hatte, war ich ziemlich wacklig auf den Beinen. Alles war seltsam.

Gestern sind im Großraum Tokio wieder vermehrt Infektionsfälle aufgetreten. Ein völlig neues Alarmsystem namens "Tokyo-Alert" wird eingesetzt, das zur Wachsamkeit aufrufen soll. In den Nachrichten sah ich, dass das Gebäude der Tokioter Stadtverwaltung und die Rainbow Bridge rot angestrahlt wurden. Sie kamen mir unbekannt vor. Ich begebe mich wieder in Isolation und schreibe auf dem Balkon. Es bleibt unklar, wann mein Alltag nicht mehr seltsam sein wird.

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

© SZ vom 05.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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