"Stadtluft macht frei": Die Karriere dieses Versprechens, das eigentlich ein mittelalterlicher Rechtstitel ist, gehört zu den missverständlichen, ja rätselhaften Wundern der Urbanistik. Denn dieser Ausdruck hätte kaum je in der Gegenwart ankommen dürfen. Der Satz beschreibt einen zunächst simplen Rechtsgrundsatz, wonach "Leibeigene" dann frei und aus dem "Eigentum" ihrer adeligen Dienstherren zu entlassen sind, wenn es ihnen gelingt, ein ganzes Jahr in einer Stadt zu leben.
Städte waren zu jener Zeit vor allem Siedlungen rund um Burgen und Klöster. Sie machten - vorgeblich zunächst - aus den unfreien Knechten der Fürsten freie Herren. Städte galten somit als Transformatoren: als Maschinen zur Herstellung des sozialen Aufstiegs. Vom Leibeigenen zum Ratsherren: Das war die urbanistische Entsprechung des amerikanischen Traums "vom Tellerwäscher zum Millionär" aus dem 20. Jahrhundert - und stammt doch aus dem deutschen Raum sowie aus dem 12. Jahrhundert.
Wer nach München zieht, geht dort das Risiko ein, immer ärmer zu werden
Das Rätselhafte ist nun: Der Satz "Stadtluft macht frei" wurde bereits 1231/32 wieder einkassiert - zugunsten der Fürsten. Und das Missverständliche daran: So einfach war es nie. Um zum städtischen Vollbürger aufzusteigen, musste man erstens Grundbesitz in der Stadt nachweisen und zweitens das Bürgergeld bezahlen. Der Normalfall jenseits solcher finanziellen Möglichkeiten bezeichnete nur den Übergang von der einen Unabhängigkeit in die andere: vom Leibeigenen zum (ungelernten) Lohnabhängigen oder Almosenempfänger.
Warum also zitiert man heute noch eine mittelalterliche Rechtsprechung, die nicht von Dauer und auch nur für sehr wenige Menschen gültig war? Wohl deshalb, weil die Strahlkraft einer Garantie, die die "Stadt" mit der "Freiheit" zu einem suggestiven, utopischen Moment verdichtet, bis heute anhält. Am Anfang stand also ein beinahe leeres Versprechen mit Mindesthaltbarkeitsdatum - aber dennoch wurde daraus eine enorme Karriere: Die Stadt wurde zum Sehnsuchtsort schlechthin. Zum Ort der Träume. Doch wurde daraus spätestens im Reich der "creative class" (Richard Florida) tatsächlich der Raum der Möglichkeiten. Die Stadt hat sich im Laufe ihrer Entwicklung ihre eigene Realität geschaffen.
Sie war von Anbeginn an die Idee von einer besseren Welt. Erst später wurde daraus jene ökonomische Vitalität, die mittlerweile, zu denken wäre etwa an Mexiko-Stadt, das Bruttoinlandsprodukt der dazugehörigen Länder in den Schatten stellt. Wenn Lewis Mumford, der amerikanische Stadtsoziologe und Historiker, schreibt: "Noch vor der Schriftkunst ist die Stadt die kostbarste Erfindung der Zivilisation" - dann ist das sowohl materiell als auch geistig-kulturell gemeint. Über Jahrtausende hin wurden so aus den Städten Utopien, gebaut aus Straßen, Häusern und Plätzen. Die Menschen des Mittelalters durchquerten die Stadttore mit jenem Gefühl, das man heute vielleicht gerade noch für die Portale einer Kirche aufbringt: Andacht. Selbst in der Münchner Frauenkirche und im Jahr 2016 ist man aber keineswegs sicher. Vor den Fürsten schon, aber nicht vor den Forschern. Die haben vor Kurzem (SZ vom 10. August) ausgerechnet jener Stadt an der Isar, die in Deutschland schon längst zu einem Synonym für Wohlstand und Zukunftsglaube geworden ist, attestiert, das reinste Armutsrisiko zu sein.
Thomas Manns München-leuchtete-Bild vom "Isar-Athen" ist insofern auf böse Weise wahr geworden: München ist dem in der Euro-Krise darbenden Athen offenbar näher als gedacht - wobei es München natürlich immer noch vergleichsweise sehr, sehr gutgeht. Aber eben doch nicht so gut wie bisher vermutet. Die Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft belegt, dass 18 Prozent der Münchner von Armut bedroht sind. Der Grund: Die Lebenshaltungskosten sind in München inzwischen so hoch, dass sie auch von den oft überdurchschnittlichen Löhnen und Gehältern nicht mehr abgefedert werden können. Wer nach München zieht, geht also dort das Risiko ein, immer ärmer zu werden.