Ukrainisches Tagebuch (LIII):Internet für eine Flasche Weinbrand

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Putin bombardiert das Land aufs Neue, aber die Ukrainer trotzen den Angriffen, Thermounterwäsche ist sehr gefragt.

Von Oxana Matiychuk

Der größte eurasische Führer des 21. Jahrhunderts, Wladimir Putin, liebt Zahlensymbolik, außerdem steht ihm eine gerechte Rache an den Ukrofaschisten zu - für die Schäden, die sein Prestigeobjekt, die Kertsch-Brücke, und somit ein wenig auch das Image seiner Erbauer nach dem Angriff am Morgen nach seinem Jubiläum genommen haben. Der Montagmorgen passt also bestens für einen Vergeltungsschlag. Der Luftalarm beginnt um 7.27 Uhr. Kurz nach acht müsste ich aus dem Haus, doch es gibt keine Entwarnung, und die öffentlichen Verkehrsmittel fahren nicht. Ich gehe eine halbe Stunde später raus in der Hoffnung, dass es bald vorbei ist. An der Haltestelle stehen viele Menschen, der Bus steht ebenfalls, der Busfahrer sitzt draußen in der Sonne. Ich lese die Nachrichten, und die Hoffnung auf eine baldige Entwarnung schwindet, anscheinend haben die Russen an diesem Tag viel vor. Eine Frau telefoniert kurz und sagt dann laut, ihr Enkel habe ihr geraten, sich zu verstecken, weil in alle Regionen Raketen fliegen würden, die Lage sei sehr ernst. Doch die einzige Reaktion sind ein paar Verwünschungen von den älteren Wartenden. Ich bestelle mir ein Taxi, die fahren wenigstens.

In der Uni angekommen nehme ich einen Stapel Hefte und gehe in den Schutzraum. Als Erstes muss ich an diesem Morgen eine kleine schriftliche Arbeit prüfen, um die Hefte möglichst schnell zurückzugeben. Im Keller sind nur wenige Menschen, der Luftalarm fing noch vor dem Arbeits- und Unterrichtsbeginn an, viele machten sich erst gar nicht auf den Weg. Es wird kaum gesprochen, alle starren auf ihre Smartphones. Die Freundschaft unserer Abteilung mit dem Hausmeister zahlt sich aus, immerhin konnten wir erreichen, dass ein Router im Keller aufgebaut wurde, der Techniker bekam eine Flasche Weinbrand, wir bekamen eine recht gute Internetverbindung.

Eine Sorge: die Testergebnisse ihrer Studenten

Das Aufgabeprüfen macht mich anders als die Nachrichten nervös. Ob das die Folgen der zweijährigen Online-Lehre in der Schule sind? Ich mache Seminare in der Einführung in die Literaturwissenschaft, in der Gruppe mit 27 Personen sind gerade drei oder vier, die es gelernt haben, das Versmaß und den Reim zu bestimmen, die allermeisten kennen das nur "theoretisch". Wir mussten mit der Silbentrennung beginnen, auch das fällt einigen schwer. Die Ergebnisse sind wenig erfreulich; ich fange, an meine Bekannten in anderen Städten zu kontaktieren. Meistens lautet der erste Satz, wenn sie antworten: "Wir leben/Ich lebe".

Kurz vor zwölf Uhr beschließe ich, ins Büro zu gehen. Die Stille im Flur wirkt ohrenbetäubend, ich sage mir selbst, es ist ein Oxymoron, mir fällt aber kein anderer Vergleich ein. Der Kollege O. kommt, ebenfalls mit dem Taxi. Wir sprechen über sein Nostos-Projekt mit Teenagern, er hört sich begeistert an. Kurz vor der Mittagspause, nach fünfeinhalb Stunden, ist Entwarnung. Aus Moskau wird gemeldet, dass alle "strategischen Ziele" getroffen seien. Das Image eines großen unbesiegbaren Landes, das das Böse erfolgreich bekämpft, ist zumindest teilweise wiederhergestellt. Die uneinsichtigen Ukrainerinnen und Ukrainer planen jedoch keinen Gang nach Canossa, ähm, nach Moskau, sondern machen sich an die Arbeit, um die beschädigten Heizkraftwerke und E-Werke zu reparieren und die Trümmer aufzuräumen.

Auch wir haben noch einiges vor. Mit dem Kollegen W. fahre ich zu einer Textilfirma, wo unsere Bestellung an Thermounterwäsche endlich fertig ist. Die kleine Firma arbeitet praktisch nonstop, die Thermounterwäsche ist sehr gefragt. Die paar Dutzend Sets sind für Mobilisierte aus unserer Universität. 74 Personen, Studierende wie Lehrende und Angestellte, sind es momentan insgesamt. Dann packe ich im Lager noch ein "Hilfspaket" zusammen: Meine Bekannte O. aus Saporischschja mit ihrem Mann und dem zehnjährigen Sohn sind auf dem Weg nach Czernowitz. Nachdem eine Rakete in das Nachbarhaus eingeschlagen ist, beschlossen sie, wieder Richtung Westen zu fahren. Zum Glück kann ich ihnen für ein paar Wochen die Wohnung von unserer DAAD-Lektorin anbieten. Kurz darauf meldet sich O., sie stehen schon vor dem Haus. Als ich dahin komme, führt der Lego-Fan R. als Erstes vor, welche Tricks er "speziell für seine Fee" gelernt hat. Ich bin beeindruckt - ich selbst könnte auf einem Roller keine Sekunde das Gleichgewicht halten, geschweige denn mich damit bewegen. Wir umarmen uns, ich zeige die Wohnung, muss dann schnell wieder weg, aber auch die Familie braucht ihre Ruhe, knapp 900 Kilometer und wochenlang schlaflose Nächte wegen der nächtlichen Beschüsse haben sie hinter sich gelassen.

Kurz vor 18 Uhr wieder im Büro, lese ich die Nachricht vom stellvertretenden Gemeindevorsteher M. aus Mamajiwzi. Er schickt Fotos von der Dachsanierung im Dorf Bila. Im ehemaligen Kulturhaus sollen für die Winterzeit zehn Familien der Binnengeflüchteten untergebracht werden, die Dacherneuerung ist die letzte notwendige Reparatur, die zur Hälfte aus unseren Spenden finanziert wird. Nun ist das neue Dachtragwerk fertig. Und mich erreicht - last but not least - die Mail von der Organisation "Schüler Helfen Leben": Der Bericht und die Abrechnung sind geprüft und angenommen, wir hätten eine weitere Spende in Aussicht. Es muss doch wirklich etwas Wahres an der Zahlensymbolik sein, denke ich, für uns, die wir uns den Untaten der Kremlführer widersetzen, im positiven Sinne.

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