Uiguren: Erotisierung von Minderheiten:Warum hat sie geschrien?

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Ein Schrei, eine Gewaltspirale, 197 Tote. Warum der Uigurenkonflikt viel mit sexuellen Phantasien zu tun hat. Von interkulturellen Missverständnissen, "Triebmenschen" und "Naturexoten".

H. Bork

Die junge Chinesin, allein mit zwei uigurischen Männern, stieß nur einen Schrei aus. "Ich hatte mich verlaufen und das falsche Wohnheim betreten und schrie, als ich diese zwei jungen uigurischen Männer in dem Zimmer sah", gab die 19-jährige Huang Cuilian später zu Protokoll. Sie drehte sich um und rannte weg. Das war zunächst alles.

Inmitten patrouillierender Soldaten: Eine Uigurin in einem Viertel, in dem kurz zuvor chinesische Sicherheitskräfte drei Uiguren erschossen. (Foto: Foto: dpa)

Dann aber verbreitete sich in der Spielzeugfabrik im südchinesischen Shaoguan, wo Huang und die Uiguren als Wanderarbeiter angestellt waren, das Gerücht, zwei Uiguren hätten eine Chinesin vergewaltigt. Nein, sechs Uiguren hätten zwei Chinesinnen geschändet. Wütende han-chinesische Männer erschlugen daraufhin am 26. Juni vor der Fabrik zwei uigurische Männer mit Eisenstangen und Knüppeln und verletzten 120 weitere.

Anfang Juli sprangen die Krawalle auf die dreieinhalbtausend Kilometer entfernte Provinz Xinjiang über, die Heimat der Uiguren. Ein Video der brutalen Gewaltszenen in Shaoguan, vermutlich mit einem Handy aufgenommen, zirkulierte im Internet. Eine Demonstration von Uiguren eskalierte. Uiguren erschlugen und erstachen han-chinesische Passanten. Durch Racheakte han-chinesischer Männer und Schüsse der Sicherheitskräfte kam auch eine bislang umstrittene Zahl von Uiguren ums Leben. Offiziell heißt es, in Urumqi seien 197 Menschen gestorben, rund zwei Drittel von ihnen Han-Chinesen.

Ein harmloser Schrei mit fatalen Folgen also. Warum aber hatte die junge Chinesin eigentlich geschrien? Die Gerüchte über ihre Vergewaltigung waren schließlich falsch. Ein Reporter der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua stellte ihr nach den blutigen Unruhen in Xinjiang genau diese Frage. "Huang sagt, sie habe keine Ahnung, warum sie Angst gehabt habe", schrieb er. Sie habe die beiden Uiguren als "unfreundlich empfunden". Einer von ihnen habe mit dem Fuß aufgestampft, als wollte er sie fangen. "Später ist mir klargeworden, dass er sich bloß über mich lustig gemacht hat", sagte Huang. Noch viel später sollte sie hören, was ihr Schrei ausgelöst hatte.

Man wird wohl nie mehr genau erfahren, warum Huang schrie. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass ihr Erschrecken etwas mit dem Bild zu tun hat, das viele Han-Chinesen von "den Uiguren" im Kopf haben. Die neun Millionen Uiguren sind für die Bevölkerungsmehrheit der Han-Chinesen ein exotisches Völkchen am Rande ihres riesigen Reiches. Ein lustiges Völkchen obendrein: Die Uiguren sind dafür bekannt, gerne zu tanzen und zu musizieren. Und man sagt ihnen seitens der Han-Chinesen gerne nach, ein wenig "suibian" zu sein, also "lockere Sitten" zu haben.

"Endlos viele Mädchen, die endlos tanzen" - mit dieser Verheißung lockt etwa der 2007 auf Chinesisch erschienene Reiseführer namens "Reisewissen Xinjiang" auf seinem Cover. Eine für chinesische Touristikbroschüren typische Abbildung von Uiguren findet sich in dem Buch "Bevölkerung und Kultur Xinjiangs". Eine neckisch lächelnde junge Uigurin mit bunter Bluse, bunter Trachtenhaube und rotem Lippenstift berührt auf dem Foto mit zarten Fingern die prallen, überreifen Weintrauben zu ihrer Rechten.

Lesen Sie auf Seite 2, warum uigurische Stereotypen Spuren in der Phantasie chinesischer Männer hinterließen.

China und die Uiguren
:Unruhen in Urumqi

Brennende Autos, blutende Menschen: Der Hass zwischen Uiguren und Han-Chinesen entlädt sich in Xinjiang in Gewalt. Peking schickt Tausende Soldaten und Polizisten. Die Stimmung bleibt aggressiv. In Bildern.

Nun singen und tanzen Uiguren wirklich gerne, Frauen wie Männer. Problematisch aber werden solche Beschreibungen, wenn sie zum ewiggleichen Stereotyp gerinnen, das die herrschende Mehrheit einer Minderheit überstülpt. In seinem Ölbild "Das Erwachen der Tarim" von 1979 hat der han-chinesische Maler Zhao Yixiong eine nackte Frau gemalt, die sich auf einem Flickenteppich aus Seidenstraßenklischees räkelt. "Ein solches Bild, auf dem Kamele und die Minarette von Moscheen buchstäblich aus dem Schoß der Frau hervortreten", müsse die Uiguren erzürnen, schreibt der amerikanische Ethnologe Dru C. Gladney in seinem Buch "Dislocating China". Schließlich gehen die meisten Uigurinnen nur mit Kopftuch oder Schleier auf die Straße.

Von einer systematischen "Erotisierung sogar der Muslime" durch die Han-Chinesen spricht Gladney, und führt als weiteres Beispiel das Bild "Nackte mit Apfel" des han-chinesischen Malers Tang Muli an. Mit einem zentralasiatischen Hut auf dem Kopf, auf einem Teppich aus Xinjiang sitzend, knabbert dort eine hüllenlose Schönheit an ihrem Obst.

Spukende Harems-Phantasien

Eine "fast uniforme Assoziation zwischen Orient und Sex" hatte schon Edward W. Said in seinem berühmten Buch "Orientalismus" beschrieben und auch er hatte dabei den muslimischen Orient im Blick. Allerdings beschrieb er europäische, also "westliche" Akte der Anbetung und sexuellen Unterwerfung im Kolonialzeitalter. Er erinnerte an Gustave Flaubert, der die ägyptische Tänzerin Kuchuk Hanem zuerst vom Zuschauerraum aus angehimmelt hatte, bevor er mit ihr schlief und sie später als verführerische Orientalin in "Die Versuchung des Heiligen Antonius" und in seiner kurzen Erzählung "Herodias" porträtierte.

Durch die Köpfe vieler han-chinesischer Männer spuken bis heute ähnliche Harems-Phantasien. Auf dem Großen Basar im Zentrum von Urumqi, auf dem bei den gewaltsamen Zusammenstößen am 5. Juli die meisten Menschen starben, lassen an gewöhnlichen Tagen han-chinesische Touristikunternehmer Uigurinnen in Kostümen tanzen, "die von den meisten Uiguren als äußerst skandalös empfunden werden", wie ein uigurischer Blogger namens Porfiry schreibt. Derselbe Autor überliefert eine weitere Szene, die er "oft gesehen" haben will. Han-chinesische Parteikader in Xinjiang, nach einem ihrer üblichen Trinkgelage gut alkoholisiert, raunzen uigurische Bauern an, sie sollten ihre Töchter für sie tanzen lassen. So bereichern die lüsternen kommunistischen Kader die Parallele zu Saids westlichem Orientalismus um den Aspekt der "internen Kolonialisierung" Xinjiangs innerhalb Chinas, wie Michael Hechter Pekings Unterwerfung seines Nordwestens genannt hat.

Nun waren Ölbilder mit nackten Schönheiten aus Chinas diversen Minderheiten vor zwei, drei Jahrzehnten viel beliebter als heute. Im prüden Sozialismus zu Beginn der Reform- und Öffnungsära rutschten ein tibetisches Schamdreieck oder ein zentralasiatischer Busen eher durch die strenge Pekinger Zensur, eben weil diese "Naturvölker" allgemein als "suibian" bekannt waren. Das hat sich seither geändert. Wer die gegenwärtige Malproduktion in China betrachtet, könnte zu dem Ergebnis kommen, dass die Han-Chinesen ihre sexuellen Phantasien heutzutage vor allem auf ihresgleichen projizieren.

"Nicht mehr als eine Maschine"

Doch weder ist die jahrzehntelange Stereotypisierung der Uiguren spurlos an der chinesischen Psyche vorübergegangen, noch sind erotische Projektionen auf diverse Minderheiten heute völlig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. So ist etwa die einzige Angehörige einer Minderheit in Wang Gangs 2004 erschienenem Bestsellerroman "Englisch" (Yingelishi), der während der Kulturrevolution in Xinjiang spielt, eine begehrenswerte Uigurin. Mit dieser Reduzierung einer Volksgruppe auf ein einziges Merkmal ist dieser chinesische Autor - vermutlich unbewusst - nicht weit von Flaubert entfernt, der in einem Brief behauptete, die orientalische Frau sei "nicht mehr als eine Maschine: Sie macht keinen Unterschied zwischen einem Mann und einem anderen Mann."

Auch im chinesischen Film sind aufreizende, stets ihre Hüften schwingende und Weintrauben lutschende uigurische Männer und Frauen bis heute beliebt. Der chinesische Sozialwissenschaftler Yang Chunyu hat die Fernsehproduktion "Qingzui Houzhou" untersucht, die vor ein paar Jahren vom Staatssender CCTV 6 ausgestrahlt worden ist. Er fand Mitglieder einer Minderheitentanztruppe, die "stets in freizügiger Kleidung auftraten, obwohl sie doch konservative Muslime waren".

Nichts habe sich in China seit Dru Gladneys Kritik verändert, die einige Jahre zurückliege, schrieb Yang. Der "hegemonistische Diskurs der Mehrheit gegenüber der Minderheit" der Uiguren setze sich fort. Andere Ethnien werden in China gerne als Triebmenschen, Nymphomanen, Naturexoten gezeichnet, nebenbei vergewissert man sich dabei der eigenen Zivilisiertheit und vermeintlichen Überlegenheit.

Niemand behauptet, die Erotisierung der Uiguren sei der Hauptgrund für die jüngsten Rassenkrawalle in Shaoguan und Urumqi gewesen. Die wirtschaftliche Ausbeutung der Region durch han-chinesisch dominierte Firmen, die hohe Arbeitslosigkeit der Uiguren, ihre fortschreitende Marginalisierung durch den Zuzug von Millionen han-chinesischen Siedlern sind der wichtigere Kontext. Der Kommunikationsverlust zwischen den beiden Volksgruppen geht weit über Romantisierungen hinaus. Auch der von Pekings Kommunisten gezielt geförderte Nationalismus, der immer mehr Züge eines han-chinesischen Chauvinismus annimmt, hat über Jahre hin die Lage immer weiter verschärft.

Dadurch kann die Ermordung all der Han-Chinesen durch die aufgebrachten Uiguren nicht gerechtfertigt werden. Doch die sexuell konnotierten Gerüchte zu Beginn der Krawalle, auch die explosionsartige Entladung der aufgestauten Ressentiments auf beiden Seiten, sind vor dem Hintergrund der interkulturellen Missverständnisse besser einzuordnen. Es ist dann nicht mehr ganz so mysteriös, warum ein chinesisches Mädchen schreit, wenn es sich plötzlich in einem Zimmer mit fremden Uiguren wiederfindet, warum sich ein Gerücht über ihre Vergewaltigung durch Uiguren wie ein Lauffeuer unter Chinesen ausbreiten kann, und warum jetzt wieder in den Propagandafilmen auf "Xinjiang TV", hastig ausgestrahlt nach den Unruhen, die Uiguren und Han-Chinesen als fröhliche Vielvölkerfamilie gemeinsam tanzen und singen.

© SZ vom 21.7.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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