Übergriffigkeit:Die Deutschen und ihr Problem mit Nähe

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Jemanden einfach so ansprechen? Bloß nicht. Die aktuell allergrößte Unverschämtheit: Anrufe und Kurzbesuche bei Freunden nicht vorher per Kurznachricht offiziell angefragt zu haben. (Foto: imago images/VWPics)

Einfach bei Freunden klingeln, den Sitznachbarn ansprechen oder der Seniorin beim Tragen helfen? Lieber nicht, könnte ja übergriffig wirken. Wie wir uns vor lauter Vorsicht aus allen menschlichen Verantwortungen stehlen.

Von Julia Werner

In Süditalien ist man stolz auf "caffè", zu dessen Genuss Reisende von neuen Bekanntschaften in den ersten drei Gesprächsminuten fast genötigt werden. Weil eine neue Bekanntschaft dort so etwas wie eine Medusa ist, aus deren Kopf gleich drei neue Bekanntschaften wachsen, ist dem deutschen Kosmopoliten irgendwann speiübel, aber auch sehr leicht ums Herz. Eine Kaffeeeinladung nach Hause, irgendwo in Schwabing, wäre hingegen Wahnsinn, eine einzige Übergriffigkeit! Denn als solche wird neuerdings alles bezeichnet, was einem irgendwie nahekommt. War sie früher mal ein todernster Tatbestand - laut Definition: eine eigenmächtige, die Kompetenz überschreitende, gegen jemanden oder etwas gerichtete Handlung -, ist aus dem Begriff ein riesengroßer Sack geworden, in den man sehr viel werfen und dann draufhauen kann, weil es ja immer den Richtigen trifft. Beim Lästern ist die zu verunglimpfende Person nicht mehr einfach nur blöd, sondern übergriffig. Eltern, die ihre Kinder bis vors Schultor bringen, sind aus Lehrersicht übergriffig. Und die allergrößte Übergreiferin ist die eigene Mutter. Tipps zur Haushaltsführung, Lebensplanung oder Männerwahl, früher konnte man die mit einem Augenrollen abtun. Moderner ist es, das bisschen Generve zum Übergriff aufzubauschen.

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