TV-Kritik: Schlag den Raab:Lipgloss-Glamour gegen Grimassenpower

Lesezeit: 3 Min.

Manchmal nicht Herr seiner Extremitäten - aber unschlagbar: Studentin Amelie fuhr zwar besser Auto, doch überholen konnte sie Stefan Raab nicht.

Franziska Seng

Alle Jahre wieder kommt George Michael. Der ehemalige Wham!-Frontmann lauert zwischen Seidenkrawatten, in Glühweinpfützen und Drogeriefachmärkten - nirgends ist der vorweihnachtliche Fußgängerzonenbenutzer vor ihm sicher. Subtil schüttelt Michael seine Rauschgoldmähne: Schnee, glöckchenhelle Akkorde und auftoupierte Erinnerungen an "Last Christmas" fallen heraus.

So sieht ein Sieger aus: Mit 20:71 Punkten schlug Stefan Raab seine Herausforderin, Studentin Amelie. (Foto: Foto: Pro Sieben)

Plötzlich lösen sich bei so manchem Fußgängerzonenbenutzer alle Hemmungen. Er trinkt zuckrige Bowle und aus seinem Kopf beginnen arabeske Rentier-Geweihe zu wachsen.

Endlich wieder eine Gegnerin

Der höchst unangenehme Wham!-Over ist jedoch programmiert: Das Bonus-Material im Wein macht sich irgendwann bemerkbar. Und außerdem juckt das filzige Rentier-Geweih.

Glück hatte, wer gestern nach seinem Advents-Shopping rechtzeitig auf der Fernsehcouch zurück im Leben erwachte und die wunderbaren Verrenkungen des ewig wiederkehrenden Stefan Raab und seiner Herausfordererin mitverfolgen konnte.

Dem Zuschauer bot sich ein besinnliches Spektakel, das beinahe mit dem vorweihnachtlich zauberhaften Märchentitel "Zwei Koffer für Amelie" hätte überschrieben werden können. Allerdings eben nur beinahe.

Seit langem hatte es wieder eine Kandidatin in die Sendung geschafft, überhaupt erst die dritte neben bislang siebzehn männlichen Herausforderern.

"Ich hab den Propeller zu spät gesehen"

Die vierundzwanzigjährige Studentin Amelie gewann die Vorauswahl und auch die Sympathien der Zuschauer, ja sogar ihrer Gastgeber, und brachte Anmut und dezenten Lipgloss-Glamour ins Mülheimer Studio.

Auch an Kampfgeist fehlte es ihr nicht. Zunächst wechselten sich Amelie und Raab mit dem Siegen ab, die Starnbergerin konnte sich Chancen auf den Gesamtgewinn ausrechnen.

Zum Einstieg des gestrigen Abends hatten sich die Macher des ProSieben-Formats ein paar erstaunlich actionarme, in die späte Nacht ausufernde Spiele ausgedacht, ideales Antidot für diese so hektische Dezemberzeit. Buchcover-Raten zum Beispiel. Eine echte Herausforderung für Raab, den Mann der Tat, der im Verlauf des Spiels mehrmals betonte, "Fiktion" wäre nicht so sein Ding.

Achtundzwanzig markante Buchcover waren von der Redaktion vorbereitet, bereits nach sechsundzwanzig vorgestellten Titeln konnte Amelie sich durchsetzen, weil Raab zu sehr mit dem Boden der Tatsachen verhaftet war: "Ich hab den Propeller zu spät gesehen", stöhnte er beim Buch über Überflieger "Karlsson vom Dach".

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Raab in seiner Königsdisziplin, dem Autospiel, versagte.

Manche dieser Spiele würden sich sogar zum Nachspielen am Weihnachtsabend eignen. Das ikonoklastische "Stimmen erkennen" zum Beispiel, das Raab für sich entscheiden konnte: Zur Feier des Tages mal ein Deckchen über den Bildschirm hängen, rätseln, wer denn da so nuschelt und sich wundern, wie farblos Jürgen Trittin spricht, und dass Schlagersängerin Nicole überhaupt noch Laute von sich gibt.

Oder das Spiel "Wasser": Abwechselnd müssen die Gegner aus zehn unterschiedlich vollen Wassergläsern eines auswählen und und in ein Gefäß mit unbekanntem Fassungsvermögen kippen. Wer das Sammelbecken zum Überlaufen bringt, hat verloren. Amelie zeigte hier mehr Einschätzungsvermögen, und so kam es zu einer fast sentimental stimmenden Demonstration der guten alten Oberflächenspannung aus dem Oberflächenphysikbaukasten, die der Oberbayerin den Punktgewinn ermöglichte.

Die Herausfordererin siegte außerdem im Spiel "Kugellabyrinth", einer überdimensionierten Variante des bekannten Geschicklichkeitsspiels, bei dem der hektische Raab eingestand, manchmal nicht "Herr seiner Extremitäten" zu sein.

Sogar im Autospiel, eigentlich eine Disziplin, in der Raab bislang als unschlagbar galt, konnte sie punkten, weil Raab beim Autowenden auf kleiner Fläche zu ungeduldig war und die Begrenzung touchierte.

Sinnesnerven und Wertvorstellungen nicht in Gefahr

Bei Aufgaben wie "Handball", "Tischtennis", "Extremeierlauf" oder den meisten Wissensfragen hatte jedoch der Showmaster die Nase vorn.

So kam es, dass sich Amelie nach dreizehn Spielen und mit 20:71 Punkten geschlagen geben musste, nach vier schweißtreibenden Runden auf dem Tretauto durch die Studiokulisse, die Raab mit dem überzeugenderen Keuch- und Grimasseneinsatz absolvierte, und Amelies Vater anerkennend wie schicksalsergeben feststellte: "Der Herr Raab ist eben der Herr Raab."

Der bildschirmfüllende Entertainer konnte wieder seine Größe beweisen und als konsumgeschädigter Fußgängerzonenbenutzer musste man mit Raab und Amelie am vergangenen Samstagabend keine weiteren Attacken auf Sinnesnerven oder Wertvorstellungen erleiden.

Anders vielleicht als Dieter Bohlen, der beim Nachbarsender dem Finale von "Das Supertalent 2009" beiwohnen und zusehen musste, wie ein Hund samt Dompteur vom Publikum zum Sieger erkoren wurden.

Möglicherweise wird mancher hier an den April des Jahres 1817 gedacht haben, als Goethe die Leitung des Weimarer Theaters hinschmiss, weil dort gegen seinen Willen das Stück "Der Hund des Aubry" auf den Plan gesetzt wurde und dank eines dressierten Vierbeiners sensationelle Erfolge feierte.

Und hätte Bohlen ebenfalls ansatzweise Format, müsste er eigentlich zurücktreten. Vielleicht kommt er aber nächstes Jahr trotzdem wieder. Wie George Michael.

© sueddeutsche.de/jobr/plin/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: