Türkisches Tagebuch (XIX):In der Türkei ist jeder verdächtig

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Martialische Bildsprache: Eine Frau spiegelt sich in einem Propagandaplakat der Regierung in Istanbul. Gegen Andersdenkende wird hart durchgegriffen. (Foto: Thanassis Stavrakis/AP)

Die Regierung beschränkt massenhaft die Reisefreiheit von Journalisten und behindert offenbar systematisch die Arbeit des Parlaments in Ankara.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Türkische Polizei hat seit 15. Juli alle Pässe von Journalisten für ungültig erklärt." - Dieser Tweet tauchte am Montag in meiner Twitter-Timeline auf. Er kam von Selina Doğan, einer Anwältin und Abgeordneten der CHP, der wichtigsten Oppositionspartei. Er war also absolut ernst zu nehmen.

Doğan, die der armenischen Gemeinde in Istanbul angehört, war dem Fall meines Kollegen Hayko Bağdat nachgegangen, über den ich am Montag an dieser Stelle geschrieben habe. Als er aus Griechenland in die Türkei zurückkehrte, war sein Pass ohne Erklärung eingezogen worden.

Ich sprach mit Doğan. Sie und ihr Mann, der Anwalt Erdal Doğan, hatten wissen wollen, was es mit den ihrer Ansicht nach willkürlichen Reisebeschränkungen auf sich habe. Sie sagte mir, als "Vorsichtsmaßnahme" sei eine unbekannte Zahl von Pässen von Journalisten "gelöscht" worden.

Ein Beamter habe ihr gesagt, die Polizei sei per Dekret zu diesem massenhaften Ausreiseverbot aufgefordert worden. Anschließend solle bei jedem Betroffenen geprüft werden, ob ein Verfahren gegen ihn laufe oder nicht. "Es ist bizarr", sagte sie, "jeder ist pauschal verdächtig und muss seine Unschuld beweisen statt umgekehrt."

Kurz nach dem Gespräch kam ein neuer Tweet: diesmal von Eren Keskin. Das ist eine bekannte kurdische Kolumnistin, Anwältin und eine Chefredakteurin der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem. "Jeder, gegen den unter dem Anti-Terror-Gesetz ein Verfahren läuft, sollte sich nach seinem Status erkundigen", schrieb sie. Und: "Ich hatte schon Ausreiseverbot. Jetzt haben sie auch noch meinen Pass für ungültig erklärt. Danke, Türkei, ich bin ein Fan deiner Demokratie."

Bei der Opposition wächst der Unmut

Und dann gibt es da noch die kurdische Reporterin Şermin Soydan, die wegen eines einzigen Artikels zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Soydan, die für die prokurdische Nachrichtenagentur Diha arbeitet, wurde am 14. Mai verhaftet. Der Grund: ein von ihr geschriebener Beitrag über die Militäroperationen gegen PKK-Gruppen in Yüksekova in der Provinz Hakkâri.

In der 21-seitigen Anklageschrift, in der ihr Artikel als "sogenannter Bericht" bezeichnet wird, wird sie beschuldigt, "sicherheitsrelevante Staatsgeheimnisse beschafft" und die "Kampfbereitschaft der Sicherheitskräfte gefährdet" zu haben. Außerdem wird ihr "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" vorgeworfen. Von 77 Journalisten, die bei Diha arbeiteten, sind 13 in Haft.

Unterdessen wächst bei der Opposition der Unmut über die Regierungsdekrete. Die AKP hat bisher drei extrem restriktive Dekrete erlassen und tut nun alles, um eine Debatte im Parlament zu verhindern, berichten Abgeordnete der CHP.

Die Legislative könnte über Wochen gelähmt sein

Die türkische Verfassung schreibt vor, dass Notstandsdekrete innerhalb von 30 Tagen nach dem Erlass im Parlament diskutiert werden müssen. Einige Mitglieder der CHP haben der Tageszeitung Cumhuriyet gesagt, es gebe klare Anzeichen dafür, dass die AKP eine lange Sommerpause des Parlaments beschließen wolle. Über die Dekrete könnte dann frühestens Anfang Oktober debattiert werden.

Angesichts der autoritären Sprüche der AKP-Redner bei der Massenkundgebung am Sonntag in Istanbul und der Aussicht, die Legislative könne über Wochen gelähmt sein, gibt es hinsichtlich der Ereignisse in der Türkei weiterhin allen Grund zu tiefem Pessimismus.

© SZ vom 09.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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