Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass der Journalismus in der Türkei einer der gefährlichsten Berufszweige ist. Sehr bitter war es dieser Tage, die Hilferufe eines Jugendlichen zu verfolgen, der verzweifelt versucht, seine Mutter aus einer unrechtmäßigen Inhaftierung zu retten. Tarık Korucu tweetet regelmäßig: "Mein Vater ist der Journalist Bülent Korucu. Meine Mutter wird seit sechs Tagen festgehalten, weil er untergetaucht ist. Ich flehe euch an, brecht euer Schweigen angesichts dieser illegalen Tat." Die 45-jährige Hacer Korucu ist Mutter von fünf Kindern und wurde am 31. Juli in Polizeigewahrsam genommen.
Türkisches TagebuchYavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Sofia Glasl.
Ihre Festnahme war Teil der Aktion, bei der die Behörden 42 Journalisten ins Visier nahmen. Viele von ihnen arbeiteten für die Tageszeitung Zaman, auch Bülent Korucu. Sein Aufenthaltsort ist noch immer unbekannt. Die Polizei verweigerte Hacer Korucu, ihr einjähriges Kind mit ins Gefängnis zu nehmen. Tarıks älterem Bruder wurde mitgeteilt: "Wir werden die Schlinge immer enger ziehen, um deinen Vater aus seinem Versteck zu locken. Du bist als Nächstes dran."
Tarık Korucu hat bereits einige Abgeordnete und Journalisten wie Can Dündar um Hilfe gebeten. Nur ein Abgeordneter reagierte - Mahmut Tanal von der Oppositionspartei CHP. Der Großteil der türkischen Medien ignoriert diese Geschichte, nur die unabhängige News-Website Diken und die Plattform for Independent Journalism (P 24) berichteten.
Am Donnerstag tweetete Tarık dann, er und seine Geschwister dürften die Mutter besuchen. Sie brauchen einen Anwalt, können aber in der ultrakonservativen Stadt Erzurum keinen finden: "In dieser großen Stadt gibt es keinen einzigen vertrauenswürdigen Anwalt mehr."
Punto24 tweetete am Freitag, dass seit dem Putschversuch 42 Journalisten inhaftiert wurden. Damit werden inzwischen insgesamt 77 festgehalten. Zudem wurden aktuell zwei kurdische Reporter in Yüksekova in der Provinz Hakkâri verhaftet. Vor allem bedeuten die anhaltenden Festnahmen und die Verteufelung des Journalismus, dass inzwischen Hunderte Reporter arbeitslos sind. Sie werden niemals einen Job in den zentral gesteuerten Medien finden, die nun Selbstzensur üben. Laut dem Europäischen Journalismus-Observatorium (EJO) wurden bisher mehr als 100 türkische Medienunternehmen geschlossen und ihr Kapital von der Regierung beschlagnahmt.
Viele von uns, ich bin selbst betroffen, haben ihre Auftraggeber verloren und kein Einkommen mehr. Wenn kein Wunder geschieht oder wir uns der Staatsmacht beugen, werden wir unseren Beruf nicht mehr ausüben können.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)