Türkische Chronik (XXVII):"Es war purer Verrat"

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Als ihren Kollegen von September an einem nach dem anderen gekündigt wurde, verschlechterte sich ihre Gesundheit zunehmend. In einem Interview mit der kleinen Zeitung Evrensel beschrieb sie die Säuberungen: "Die Zimmer auf unserem Stockwerk wurden nacheinander evakuiert, die Namensschilder noch am selben Tag entfernt. Ihre Veröffentlichungen und Namen verschwanden von der Website, als ob sie niemals an der Universität gearbeitet hätten. Ich war kurz vor dem Ersticken. Es war purer Verrat, also ging ich."

Mine fühlt sich alleingelassen von ihren ehemaligen Kollegen: "Nicht nur der Präsident oder der Dekan haben uns alleingelassen, sondern auch viele sogenannte 'Freunde', die immer behauptet hatten, dieselbe politische Gesinnung zu haben, Leute, die für Prinzipien einstehen sollen. Es gab sogar einige, die ihren entlassenen Kollegen nicht mal ihr Mitleid aussprachen. Als ich kündigte, war ich nicht überrascht über die Kollegen, die ihren Kopf wegdrehten, in ihre Zimmer rannten und die Türen schlossen, als sie mich den Gang mit meinen Kartons entlanggehen sahen. Einige hatten der Formulierung in unserer Petition nicht zugestimmt. Wir sagten: Es ist okay, wenn ihr nicht zustimmt, aber veröffentlicht wenigstens einen Text, in dem ihr unser Recht verteidigt, unsere Meinung zu äußern. Sie stimmten dem erst zu, machten dann aber doch einen Rückzieher."

Mine wehrte sich noch etwas länger; für ihre Doktoranden, wie sie sagte. Als sie kündigte, bekam sie große Unterstützung von ihnen, im Gegensatz zu vielen ihrer linken und säkularen Kolleginnen und Kollegen. Während diese allesamt schwiegen, geschah jedoch etwas anderes. Eine ganz andere Gruppe von Verfolgten lobte sie für ihren Widerstand, all jene nämlich, die angeblich der Gülen-Bewegung Fetö angehören und deshalb verfolgt werden.

Mine ist nun verbittert. Sie hat viele Kontakte aus ihrem Telefonbuch und wie sie sagt auch aus ihrem Leben gestrichen. Ihr desillusioniertes Resümee: "Hätten wir uns nur rechtzeitig zusammengetan, damals, als Erdoğan damit anfing herumzuschreien, dann wären wir nicht an diesem jetzigen Punkt. Aber das ist nicht passiert. Das Problem mit den Medien ist ganz offensichtlich, momentan ist der beste Journalist derjenige, der keine Fragen stellt. Aber dasselbe gilt doch für die Universitäten."

Was sie hier grundsätzlich beschreibt, ist eine Art Fäulnis, die dem Faschismus den Boden bereitet. Man könnte noch viele solcher Geschichten von Verrat und Feigheit erzählen. Immer weiter abwärts bewegt sich die Türkei. Das Land der Tragödie, der Scheinheiligkeit und der Fäulnis. Was soll man noch sagen, wenn ein großes Interview mit Orhan Pamuk komplett zensiert worden ist? Von der Zeitung Hürriyet, einem Aushängeschild der Doğan Group, dessen Herausgeber erst kürzlich mit dem Pressefreiheits-Preis der Deutschen Welle ausgezeichnet worden ist. Einen Literatur-Nobelpreisträger zu zensieren, der im Interview erklärt, warum er im anstehenden Referendum "Nein" stimmen wird. Was soll man dazu noch sagen?

Türkisches Tagebuch

Das Sprichwort lautet "Der Fisch stinkt vom Kopf her." Mit diesem Wissen im Hinterkopf wird nichts mehr eine Überraschung sein.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Natalie Broschat.

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