Als ihren Kollegen von September an einem nach dem anderen gekündigt wurde, verschlechterte sich ihre Gesundheit zunehmend. In einem Interview mit der kleinen Zeitung Evrensel beschrieb sie die Säuberungen: "Die Zimmer auf unserem Stockwerk wurden nacheinander evakuiert, die Namensschilder noch am selben Tag entfernt. Ihre Veröffentlichungen und Namen verschwanden von der Website, als ob sie niemals an der Universität gearbeitet hätten. Ich war kurz vor dem Ersticken. Es war purer Verrat, also ging ich."
Mine fühlt sich alleingelassen von ihren ehemaligen Kollegen: "Nicht nur der Präsident oder der Dekan haben uns alleingelassen, sondern auch viele sogenannte 'Freunde', die immer behauptet hatten, dieselbe politische Gesinnung zu haben, Leute, die für Prinzipien einstehen sollen. Es gab sogar einige, die ihren entlassenen Kollegen nicht mal ihr Mitleid aussprachen. Als ich kündigte, war ich nicht überrascht über die Kollegen, die ihren Kopf wegdrehten, in ihre Zimmer rannten und die Türen schlossen, als sie mich den Gang mit meinen Kartons entlanggehen sahen. Einige hatten der Formulierung in unserer Petition nicht zugestimmt. Wir sagten: Es ist okay, wenn ihr nicht zustimmt, aber veröffentlicht wenigstens einen Text, in dem ihr unser Recht verteidigt, unsere Meinung zu äußern. Sie stimmten dem erst zu, machten dann aber doch einen Rückzieher."
Mine wehrte sich noch etwas länger; für ihre Doktoranden, wie sie sagte. Als sie kündigte, bekam sie große Unterstützung von ihnen, im Gegensatz zu vielen ihrer linken und säkularen Kolleginnen und Kollegen. Während diese allesamt schwiegen, geschah jedoch etwas anderes. Eine ganz andere Gruppe von Verfolgten lobte sie für ihren Widerstand, all jene nämlich, die angeblich der Gülen-Bewegung Fetö angehören und deshalb verfolgt werden.
Mine ist nun verbittert. Sie hat viele Kontakte aus ihrem Telefonbuch und wie sie sagt auch aus ihrem Leben gestrichen. Ihr desillusioniertes Resümee: "Hätten wir uns nur rechtzeitig zusammengetan, damals, als Erdoğan damit anfing herumzuschreien, dann wären wir nicht an diesem jetzigen Punkt. Aber das ist nicht passiert. Das Problem mit den Medien ist ganz offensichtlich, momentan ist der beste Journalist derjenige, der keine Fragen stellt. Aber dasselbe gilt doch für die Universitäten."
Was sie hier grundsätzlich beschreibt, ist eine Art Fäulnis, die dem Faschismus den Boden bereitet. Man könnte noch viele solcher Geschichten von Verrat und Feigheit erzählen. Immer weiter abwärts bewegt sich die Türkei. Das Land der Tragödie, der Scheinheiligkeit und der Fäulnis. Was soll man noch sagen, wenn ein großes Interview mit Orhan Pamuk komplett zensiert worden ist? Von der Zeitung Hürriyet, einem Aushängeschild der Doğan Group, dessen Herausgeber erst kürzlich mit dem Pressefreiheits-Preis der Deutschen Welle ausgezeichnet worden ist. Einen Literatur-Nobelpreisträger zu zensieren, der im Interview erklärt, warum er im anstehenden Referendum "Nein" stimmen wird. Was soll man dazu noch sagen?
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)
Das Sprichwort lautet "Der Fisch stinkt vom Kopf her." Mit diesem Wissen im Hinterkopf wird nichts mehr eine Überraschung sein.
Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Natalie Broschat.