Türkische Chronik (XLIX):Erdoğans neuer Staat naht

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Türken feiern den Jahrestag des gescheiterten Putsches, der von der Regierung zum "Tag der Demokratie und der nationalen Einheit" erklärt wurde. (Foto: AFP)

Die türkische Regierung schaltet auf dem Weg in die Autokratie die Intellektuellen im Land aus. Die kemalistische CHP hat es versäumt, sich mit den Verfolgten zu verbünden.

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Angesichts der kollektiven Erdoğan-Bewunderung wird die Einsamkeit des türkischen Intellektuellen augenfällig. Sie ist, ob im Gefängnis oder nicht, eine aufgezwungene Isolation. Die in der Ablehnung der Demokratie siegreiche Masse - der unterlegene Einzelne: Beides zeigt die Tragödie der Türkei und verweist auf die Art der Kontinuität, die Erdoğan mit einem Ein-Mann-Regime anstrebt.

Erdoğans Vision ist nach dem Referendum Mitte April noch deutlicher geworden. Mit der Unterwerfung des einst säkularen Militärs, der Einführung des Dschihadismus in die Schulbücher sowie der religiösen Ehen hat die Türkei nun jene Stufe erreicht, die der amerikanische Soziologe Barrington Moore einst als "die Befürwortung von strikter Tugendhaftigkeit, Militarismus, Verachtung der dekadenten Ausländer und Anti-Intellektualismus" beschrieb.

In der vergangenen Woche erhielt die türkische Öffentlichkeit die "Nachricht" von Ayhan Oğan, einem Spitzenpolitiker der Erdoğan-Partei AKP, dass man die Errichtung eines neuen Staates anstrebe. "Und der Gründer dieses neuen Staates ist Recep Tayyip Erdoğan."

Vergeblich versuchte die Opposition, eine Debatte zu entfachen. Doch der CHP, der Partei des Gründers der Republik, Mustafa Kemal Atatürk, mangelt es dazu an Elan. Zu lange schauten sie der Erosion jener Werte zu, welche die demokratische Ordnung der Türkei intakt hielten.

Die CHP scheiterte auch an ihrer Unfähigkeit, einen starken, intellektuellen "Gürtel" zu bilden. Dies liegt am Kemalismus selbst, welchen der Philosoph Karl Popper wohl als "geschlossene" Ideologie bezeichnet hätte. Stets ließ diese Verschlossenheit die CHP zu den besten türkischen und kurdischen Intellektuellen auf Distanz gehen. Der Schutz des Staates verbot eine Diskussion mit unabhängigen Denkern darüber, wie dieser zu reformieren wäre. Giuseppe Tomasi di Lampedusa schrieb in seinem Roman "Der Gattopardo": "Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern."

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Es ist dieses Verlangen nach Veränderung, was den türkischen Intellektuellen zur Einsamkeit verurteilt. Deshalb begrüßten auch viele aus Verzweiflung heraus den neuen Geist, den die frühe AKP vertrat. Mangels besserer Alternativen auf der linken Seite wagte man zu pokern.

Der Putschversuch stellt für die Regierung nur einen Angriff auf den Willen des Volkes dar

Doch schon Wochen, bevor im Gezi-Park protestiert wurde, war das Spiel verloren. So boten die Worte des Vorsitzenden der Istanbuler Niederlassung der AKP, Aziz Babuşçu, einen Vorgeschmack zu Oğans Erklärung. "Unsere Stakeholder werden nicht in der Lage sein weiterzumachen", meinte Babuşçu. "Man nehme die Liberalen. Sie sind Stakeholder, aber unsere Zukunft ist unvereinbar mit ihren Vorstellungen und Wünschen. Nie werden sie unseren Weg gehen, sondern den Kräften folgen, die gegen uns sind."

Diese Worte klangen wie ein Weckruf für viele der Intellektuellen, die am EU-geführten Reformprozess beteiligt waren. Doch alle Versuche, eine Brücke zwischen der CHP und den Intellektuellen zu schlagen, waren vergeblich, da sich die CHP weiterhin weigerte, die Dringlichkeit der Kurdenfrage für die Türkei anzuerkennen. Erdoğan sah diese Kluft und tat sein Bestes, um beide Seiten auseinanderzuhalten.

Nach den Gezi-Protesten und während des Rückbaus der Rechtsordnung seit Anfang 2014 waren die Intellektuellen immer mehr gefährdet. Isoliert und ohne politischen Dialogpartner wurden sie der Reihe nach auf schwarze Listen gesetzt. Und als die Polizei mit den Verhaftung begann, wusste Erdoğan, dass nicht einmal die CHP angemessen reagieren würde; geschweige die Massen, welche dieses Vorgehen unterstützten. Mittlerweile verfährt Erdoğan mit den Intellektuellen wie er will. Sitzen sie nicht im Gefängnis, sind sie Geiseln auf freiem Fuß.

"Die AKP besteht auf ein Ein-Mann-Regime"

Kürzlich beschrieb Soner Cağaptay, ein wichtiger türkischer Analytiker mit Sitz in Washington, in einem Essay die Systematik von Erdoğans Programm: "Für die Erdoğanisten schloss Atatürks Gruppe aus säkularen, republikanischen Gründern nach dem Ersten Weltkrieg einen Deal mit den Alliierten, um die Türkei unter das Joch westlicher Interessen zu stellen. Diese Tradition der Westunterwerfung des Volkswillens habe sich unter den säkularen Regierungsparteien fortgesetzt, bis die AKP fast ein Jahrhundert später das Ruder übernahm. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 stellt in dieser Erzählung nur einen weiteren Angriff auf den Willen des Volkes dar. Doch diesmal wehrte sich das Volk."

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In den Monaten nach dem Putschversuch liefen dazu landesweit Konferenzen von Erdoğan-nahen Organisationen unter Titeln wie "15. Juli: Vom Widerstand zur Auferstehung". Die Werbekampagne der AKP zu Erdoğans Verfassungsreferendum vom 16. April schlug daraus direkt Kapital. Ihr Slogan: "15. Juli Auferstehung - 16. April Risorgimento (Wiederaufblühen)."

Vielleicht liegen die Dinge ja so, wie sie zuletzt der kurdische Denker Tarık Ziya Ekinci (91) beschrieb. Demnach werde der Kemalismus nie mehr über eine ausreichend starke Basis verfügen, um die Macht für sich zu beanspruchen. Die AKP ersetze nun die CHP als die "Partei, welche die Kontrolle über den türkischen Staat ergriff. Der Erfolg einer politischen Partei wird gemessen an deren ideologisch-kultureller Vorherrschaft innerhalb der Gesellschaft. Diese liegt heute bei der AKP. Ihre Kernideologie ist der sunnitische Islam. Danach repräsentierten die Führer aller muslimischen Staaten im Lauf der Geschichte die göttliche Macht. Dieser Tradition verpflichtet, besteht die AKP auf einem Ein-Mann-Regime."

Sollte dies wahr sein, ist das für jeden Intellektuellen, der ein Gefühl für Würde und Gewissen besitzt, die wohl schlimmstmögliche denkbare Situation. "Der Erdoğanismus hat die türkische Demokratie auf den Pfad einer Selbstzerstörung geschickt, ohne einen Ausweg zu bieten", schrieb Cağaptay. Der bereits angerichtete Schaden ist so groß, dass er damit vielleicht recht hat.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Maximilian Sippenauer.

© SZ vom 11.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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