Folgende Szene spielte sich beim Marsch für Gerechtigkeit in der Türkei ab: Ein junger Mann, Alparslan Ege, nahm am Demonstrationszug teil.
"Was willst du?", fragte ein Demonstrant.
"Gerechtigkeit!", rief der Junge.
"Sie werden sie uns nicht geben!"
"Wir werden sie uns nehmen!"
Alparslan ist 12 Jahre alt. Ein Reporter interviewte den Jungen, der mit seinem Onkel gekommen war. Alparslan trug ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ich vermisse meine Mama und meinen Papa". Außerdem hielt er ein Plakat hoch: "Ich will nur Gerechtigkeit für meine Eltern!"
Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.
Seine Eltern, lässt uns der Reporter wissen, befinden sich seit zehn Monaten in Haft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglied von Fetö, der Gruppierung des Islampredigers Fettulah Gülen, zu sein - ein nützliches Akronym für Erdoğans Regierung, kann er es doch inzwischen juristisch gegen jeden anwenden, der ihm nicht passt. Einen Prozess braucht es nicht. Was wir ebenfalls erfahren: Der Vater des Jungen war für zwei Perioden Bürgermeister der westanatolischen Kleinstadt Uşak. Zudem kandidierte er Ende 2015 für die Oppositionspartei CHP für das türkische Parlament. Die Mutter von Alparslan arbeitete als Stadtplanerin und hatte ein eigenes Unternehmen. Jetzt sind beide im Gefängnis in der Nähe von Istanbul. "Ich will nur einen Prozess", sagt der Sohn dem Reporter, "und ich will Gerechtigkeit. Das ist alles."
Das Justizsystem der Türkei wurde zerbrochen
Was der Junge dort auf der Autobahn von Ankara nach Istanbul sagt, lässt uns erahnen, wie weit es gekommen ist. Täglich wacht die türkische Bevölkerung in dieser hässlichen Realität auf. Das Justizsystem der Türkei, das Rückgrat des demokratischen Rechtsstaats, es wurde zerbrochen. Der Strudel des Unrechts wurde unlängst zur Drohung für alles, was die gesellschaftliche Stabilität der Türkei noch aushält.
"Die Flure der Gerichte sind ein Albtraum", sagte mir kürzlich mein erfahrener Kollege, der 74-jährige Hasan Cemal. Er verbrachte vier Tage im gigantischen "Palast der Justiz" in Istanbul, verfolgte den spektakulären Prozess gegen prominente Journalisten. Was er dort sah, erschreckte ihn.
"Wem auch immer du dein Ohr leihst, deinen Verstand, vorausgesetzt du hast einen - es schmerzt. Mit wem auch immer du redest, ob mit oder ohne Kopftuch, ob Kurde, Alevit oder Sunnit, es wird immer offensichtlicher, wie dieses großartige Land durch eine Zeit geht, in der es kein Recht mehr gibt. Die Geschichten, die du hörst, von den Verwandten und Strafverteidigern, sie zeigen uns, wie verzwickt diese furchtbare Lage ist. Dieses Land kann in diese Richtung nicht für die Ewigkeit gehen. Es wird ein Tag kommen, an dem es explodiert. Lass mich dir sagen: Die Türkei ohne Recht und Freiheit wird enden in der Hölle."
Nach Monaten, um nicht zu sagen Jahren eines systematischen Rückschritts wird den Bürgern dieses Landes bewusst: Rechtsstaatlichkeit ist das höchste Gut der Demokratie. Die Demokratie steht und fällt mit dem Recht. Seitdem die komplette Macht über die Justiz bei der türkischen Regierung liegt, befindet sich unser Land im freien Fall - ein Ende scheint noch nicht in Sicht.
Und bisher, da die Türkei das Territorium der Rechtlosigkeit betreten hat, zeigt sich, wie stabil unsere Gesellschaft ist. Erdoğan wird weitere Schritte tun, um ein Recht wie in Zentralasien in der Türkei zu etablieren. Doch der Widerstand gegen dieses Projekts wird nicht leise bleiben.