Türkische Chronik (II):In Haft wegen Mitarbeit bei "falschen" Zeitungen

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Lale Kemal nahm die Türkei ernst. Als Expertin für das zivil-militärische Verhältnis setzte die Journalistin sich für die Wahrheit ein und konnte kaum davon leben, weil sich die unabhängige Presse ihren aufrichtigen Journalismus nicht leisten wollte.

Sie leitete die unabhängige Zeitung Taraf , die wegen der Notstandsverordnung geschlossen wurde. Inzwischen sitzt sie im Gefängnis, weil sie angeblich dem neu erschaffenen Monster Beihilfe geleistet hat, dem Präsident Recep Tayyip Erdoğan die ganze Misere in die Schuhe schiebt: der Bewegung um den islamistischen Prediger Fethullah Gülen.

Aber eigentlich besteht Lales einziges "Verbrechen" darin, dass sie für die "falschen" Zeitungen geschrieben hat, Taraf und Today's Zaman.

Auch Şahin Alpay nahm die Türkei ernst. Wir, seine Freunde und Kollegen, wissen das. Unter uns sind viele deutsche und schwedische Intellektuelle. Als Politikwissenschaftler hat er viele Demokratieprojekte bereichert, er ist eine der liberalsten Stimmen des Landes.

Vor drei Wochen wurde Alpay bei einer Hausdurchsuchung in Handschellen abgeführt und für unbestimmte Zeit inhaftiert. Sein Vergehen? Beihilfe zum Terror, Anstiftung zum Putsch in seinen Artikeln für Zaman und Today's Zaman, also für die "falschen" Zeitungen. Das scheint Grund genug zu sein, um einen prominenten Intellektuellen der Freiheit zu berauben.

Sie nahmen die Türkei ernst, als Dank dafür wurden sie gefeuert

Der Zugriff auf die digitalen Archive der "gefährlichen" Zeitungen wie Zaman, Taraf und Nakota ist mittlerweile gesperrt. Dies kommt einer systematischen Löschung des gesamten institutionellen Gedächtnisses gleich. Nachrichten, Gast-Kommentare, Analysen - alle weg.

Der türkische Journalistenverband Basın-İş teilt mit, dass 2308 Kollegen seit dem 15. Juli ihren Job verloren haben und vermutlich nie wieder eine Stelle finden werden. Sie nahmen die Türkei ernst, als Dank dafür wurden sie gefeuert.

Lale, Aslı und Şahin sind die Seele einer Türkei, die in ihrem Kampf um eine freiheitliche Ordnung versagt hat. Journalisten, Wissenschaftler und Künstler werden zum Sündenbock für die sprunghafte Politik der Machthaber.

Die Pfändungen erinnern an die Enteignungen im Osmanischen Reich

Das Wall Street Journal hat soeben detailliert die Abwanderung der Wissenschaftlern beschrieben. Es kommt zum Schluss, dass Erdoğan an den Hochschulen die Weltlichen jagt und die Konservativen stärkt. Dieses Vorgehen soll das Universitätswesen nach den Vorstellungen des Präsidenten umstrukturieren.

Was zudem im Eigentumsrecht passiert, ist unvorstellbar. Als Teil der großen Hexenjagd werden Geschäftsleute vom Staat enteignet, denen vorgeworfen wird, Gülen-Anhänger zu sein. Noch vor Kurzem wurden sie als "anatolische Tiger" bejubelt, die den türkischen Markt für die Globalisierung öffneten.

Nun beinhalten die Pfändungen beispiellose Kapitalverlagerungen und werden vermutlich Klagen am Europäischen Gerichtshof nach sich ziehen. Sie erinnern an die Enteignungen im Osmanischen Reich, damals wurde vor allem der Besitz von Christen eingezogen.

Verloren gegangenes Gefühl für Rechtstaatlichkeit

Die Notlage von Aslı, Lale und Emine Ayhan und auch die Enteignungen haben eines gemeinsam. Nicht die Aggressivität vergiftet die türkische Politik, sondern das verloren gegangene Gefühl für Rechtstaatlichkeit, das von den Entwicklungen seit dem Putschversuch vollkommen zunichte gemacht wurde.

Solange es kein Einsehen gibt, werden sie alle - Aslı, Lale, Şahin, Emine Ayhan und alle Türken, Kurden, Aleviten, Atheisten, Gläubige, die nicht mit Erdoğan einverstanden sind - jedes Verständnis für die Willkürherrschaft der AKP als Verrat an den demokratischen Werten und Bankrotterklärung an ihrer Zukunft verstehen.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Mitgründer der Medienplattform P 24. 2014 wurde er mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Sofia Glasl

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