Türkische Chronik (II):Enteignungen wie im Osmanischen Reich

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Hochsicherheitsgefängnis von Silivri in der Türkei

Verwandte und Freunde von Häftlingen vor dem Hochsicherheitsgefängnis von Silivri (80 Kilometer westlich von Istanbul): Bei Razzien in 18 Städten waren zuvor Geschäftsleute festgenommen worden, denen Verbindungen zum Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen werden.

(Foto: AP)

Festnahmen, Pfändungen, Willkür: Die Wut der Regierung von Präsident Erdoğan trifft nun auch Geschäftsleute. Und zwar genau diejenigen, die vor Kurzem noch bejubelt wurden.

Ein Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Als mir klar wurde, dass ich auf Anordnung von ganz oben verhaftet werden sollte, war meine Angst wie weggeblasen. In diesem Moment begriff ich, dass ich nichts verbrochen hatte." So beschreibt die Schriftstellerin Aslı Erdoğan am fünften Tag ihrer Einzelhaft ihre Gefühle.

Die Zeitung Cumhuriyet hatte ihrem Anwalt Fragen mitgegeben. Diese Antwort gibt jedoch nicht wieder, wie es ihr körperlich geht. Sie hat große Gesundheitsprobleme.

"Fünf Tage lang wurde mir meine Medizin verwehrt. Ich habe Diabetes, muss eine strenge Diät einhalten und kann nur Joghurt essen. Ich durfte nicht an die frische Luft", so Aslı: "Ich werde so misshandelt, dass ich dauerhafte körperliche Schäden davontragen werde. Mein Bett war voller Urin. Wäre ich nicht aus voller Überzeugung hartnäckig, könnte ich das hier nicht überleben."

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schrieb er nach dem Militärputsch in der Türkei im Juli einen täglichen Gastbeitrag. Inzwischen erscheinen seine Beiträge in loser Folge. Deutsch von Sofia Glasl.

Als weltweit bekannte Schriftstellerin, Autorin und Beraterin der kürzlich geschlossenen prokurdischen Zeitung Özgür Gündem wurden Aslı Terror-Propaganda vorgeworfen, außerdem Anstiftung zur Gewalt und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Sie ist laut P24, der Plattform für unabhängigen Journalismus, eine von 93 Journalisten und Journalistinnen, die in türkischen Gefängnissen sitzen. Diese Zahl wird vermutlich noch steigen und beschert der Türkei weltweit die höchsten Inhaftierungsziffern. Allein Aslıs Fall, so könnte man sagen, bringt das Leid in der Türkei auf den Punkt, ganz unabhängig vom Putschversuch.

Kein Neuanfang trotz großer Reden der Machthaber vom Sieg der Demokratie

Aber es geht nicht nur um die Intellektuellen und Dissidenten, deren Meinung kriminalisiert wird. Man könnte auch den Fall von Emine Ayhan heranziehen, einer Mutter, die am 19. August ihren Mann und vier ihrer Kinder bei einem Anschlag in Gaziantep verloren hat.

Unter den 50 Todesopfern waren 29 Kinder - die Zukunft des Landes. "Ich fand die leblosen Körper meiner Kinder. In diesem Moment brach eine Welt für mich zusammen. Ich habe nur noch einen Sohn. Hätte ich auch ihn verloren, würde ich mich umbringen", so Ayhan.

Noch immer stellen sich dieselben Fragen wie vor dem 15. Juli. Täglich zeigt sich deutlicher, dass der damals niedergeschlagene Putschversuch trotz der großen Reden der Machthaber vom Sieg der Demokratie nicht in einen Neuanfang mündet.

Schöne Worte - Die Ironie ergibt sich aus den Tatsachen

Die Frage "Was wird aus unserem geliebten Land?" wird inzwischen genauso oft wiederholt wie die Floskel vom "Festschmaus der Demokratie", welche die Sprachrohre der Regierungspartei AKP verbreiten.

Nicht nur in der Türkei, sondern auch im Ausland werden die Rufe lauter, dass wir trotz der richtungslosen Politik in der Türkei eine Regierung unterstützen sollten, die den Ausnahmezustand als wirkungsvolles Machtinstrument einsetzt und für willkürliches Handeln steht.

In einem Artikel für den unabhängigen Zeitungszusammenschluss Project Syndicate schrieb der ehemalige schwedische Außenminister Carl Bildt kürzlich: "Die Haltung des Westens zur Türkei ist von Bedeutung. Westliche Diplomaten sollten den Dialog mit der Türkei ausweiten, um eine Lösung zu finden, die demokratische Werte widerspiegelt und sowohl westliche als auch türkische Interessen berücksichtigt."

Schöne Worte. Der Titel des Artikels lautete "Taking Turkey Seriously" - die Türkei ernst nehmen. Die Ironie ergibt sich aus den Tatsachen.

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