Terezín Sommerakademie:Manche können hier nicht schlafen

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Studierende der Kölner Musikhochschule spielen Erwin Schulhoffs Jazz-Oratorium "H. M. S. Royal Oak". (Foto: Zdenek Sokol)

In der Terezín Sommerakademie kommen Studierende aus Deutschland und Tschechien zusammen. In einem ehemaligen Konzentrationslager.

Von Egbert Tholl

Der Raum, in dem die öffentliche Generalprobe stattfindet, ist seltsam genug. Ein Saal, klassizistisch, aufwendig renoviert. Prächtig. Ein Saal, wie man ihn in vielen herrschaftlichen Schlössern finden könnte, aber das ist kein Schloss hier. Es ist das Palais, dass sich vor etwa 230 Jahren der Baumeister baute, der die habsburgische Festung Theresienstadt errichten ließ. Der Mann, Wieser mit Namen, hatte offenbar ein gutes Gespür für die eigene Bedeutung und die des riesigen, damals als perfekt geltenden Festungsbaus. Von 1941 bis 1945 war der Saal das Casino der SS, nach dem Krieg bis 1990 das Offizierskasino der tschechischen Armee. Jetzt spielen Studierende der Kölner Musikhochschule darin Erwin Schulhoffs Jazz-Oratorium "H. M. S. Royal Oak". Mitten im ehemaligen Konzentrationslager.

Die Aufführung ist das Ergebnis der "Terezín Music Academy", eine Sommerschule für Studierende, an deren Zusammenkommen viele Menschen beteiligt sind, die meisten davon sitzen im Konzert: der deutsche Botschafter Andreas Künne; Per Boye Hansen, Intendant der Prager Nationaloper, an dessen Haus das Projekt "Musica non grata" angesiedelt ist, dazu gleich; Markus Klimmer, der Frank-Walter Steinmeier kennt und weiß, wie man Leute zusammenbringt; Tomáš Kraus, dessen Vater zum Bautrupp des Konzentrationslagers gehörte und die Nazis überlebte, der selbst viele Jahre die Geschäfte der jüdischen Gemeinde in Tschechien führte und nun im Ruhestand jede Frage zu Theresienstadt beantworten kann. Dazu kommen Studierende der Musikwissenschaft aus Brno, die die Tage zuvor hier Vorträge hielten, und Menschen aus der Umgebung.

Sie alle hören Musik eines Komponisten, der 1894 in Prag geboren wurde, in Köln studierte, Kommunist wurde, die sowjetische Staatsbürgerschaft erhielt, kurz vor der Ausreise in Prag verhaftet wurde und 1942 im Internierungslager Wülzburg an Tuberkulose starb. Obwohl Schulhoff selbst also nicht im Lager Theresienstadt war, gehört er zur Generation jener deutsch-tschechisch-jüdischen Komponisten, die hier von den Nazis eingesperrt wurden, unter furchtbaren Lebensumständen hausten - die Festung war einst für 7000 Menschen errichtet worden, die Nazis pferchten hier bis zu 58000 gleichzeitig zusammen (insgesamt waren es 150000) - und dennoch weiter ihre Musik machten. Erst im Geheimen, dann von den Nazis gewünscht, weil man aus Theresienstadt ein Vorzeigelager machen wollte. Das hat funktioniert, im Sommer 1944 ließ sich eine Kommission des Roten Kreuz täuschen. Kaum war diese weg, wurden die Darsteller der perfiden Inszenierung einer Stadt, in der Juden leben konnten, nach Auschwitz in den Tod geschickt. Wie auch jene, die an dem Propagandafilm mitwirken mussten, der unter dem (kolportierten) Titel "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" grausige Berühmtheit erlangte.

Die Vergangenheit ist hier immer da, man lebt ja im ehemaligen Konzentrationslager

In Theresienstadt komponierten Viktor Ullmann und Gideon Klein, Pavel Haas und Hans Krása - auf dem Dachboden, wo dessen Kinderoper "Brundibár" aufgeführt wurde, findet das Symposium der Studenten aus Brno statt. Die Vergangenheit ist hier immer da, man lebt ja im ehemaligen Konzentrationslager. In dem Haus, wo nun das Hotel ist, saßen SS-Größen. Die Tochter von Tomáš Kraus, die maßgeblich an der Organisation der Akademie beteiligt ist und auch in diesem Hotel wohnt, sagt, sie könne hier nicht schlafen, sie höre immer die Geister der Vergangenheit. Für die, die hier leben - etwa 600 Menschen - sind die fünf Jahre des Nazi-Schreckens (1940 wurde bereits in der Kleinen Festung ein grauenhaftes Gestapo-Gefängnis installiert) aber nur eine von vielen historischen Schichten. Die Hotelwirtin erzählt über ihre Übersetzungs-App von Maria Theresia (der die Festung einst gewidmet wurde), vom Sozialismus und davon, dass Terezín seit 1992 eine normale Stadt sei. Eine sehr bizarre, fast tote, beklemmende Stadt.

Schulhoff und die oben genannten Komponisten wollen das Projekt "Musica non grata" wieder ins Bewusstsein zurückholen. Einiges ist in der Hinsicht ohnehin schon geschehen, prominente Vertreter jenes Komponierens zwischen den Weltkriegen, das einen eigenen Weg aus der Spätromantik beschritt, der sich nicht an Schönberg und seinen Schülern orientierte, hatten zumindest partiell bereits eine Renaissance, etwa Alexander Zemlinsky und der in Hollywood so erfolgreiche Erich Wolfgang Korngold. Doch viel muss noch entdeckt werden. Jene Komponisten, so hört man diese Tage hier, starben mehrfach: Erst wurden sie von den Nazis umgebracht, dann ihre Werke im Nachkriegsdeutschland nicht gespielt, weil sie nicht zum Diktat der Avantgarde von Donaueschingen oder Darmstadt passten, in Tschechien galten sie als tote deutsche Komponisten, die wollte man nicht hören. Nun gelangt das festliche Abschlusskonzert der Sommerakademie, das in der Jerusalem Synagoge in Prag stattfindet, zur Prime-Time ins tschechische Fernsehen.

Schulhoff war der verrückteste unter den heute Vergessenen

"Musica non grata" ist ein auf vier Jahre angelegtes Projekt, jedes Jahr gibt das deutsche auswärtige Amt eine Million Euro. Damit wird die Sommerakademie finanziert, aber auch Ausgrabungen, die das Nationaltheater in Prag realisiert wie etwa im Juni dieses Jahres Schulhoffs Oper "Flammen". Ziel ist es, die Komponisten und ihre Werke dem Vergessen zu entreißen. Und Schulhoff war der verrückteste unter ihnen.

Er komponierte ein Stück nur aus Pausen, nahm damit John Cage um Jahrzehnte vorweg. Er vertonte in einer Kantate einen weiblichen Orgasmus oder auch das Kommunistische Manifest. Und er schrieb die "Royal Oak". Deren Geschichte ist historisch. Das britische Schlachtschiff wurde 1916 in Dienst gestellt, und auf einer Fahrt im Jahr 1928 trug sich Wundersames zu: Zwischen den Offizieren gab es einen Streit darüber, welche Musik an Bord erklingen sollte. Die einen wollten Jazz hören, der Admiral indes hasste dies, der Streit eskalierte und fand sein Ende vor britischen Gerichten, die Offiziere wurden dort gemaßregelt. 1939 versenkte das deutsche U-Boot U 47 die Royal Oak.

Vom "Royal Oak" sind kaum Aufführungen bekannt. Vielleicht auch, weil es so schwer zu spielen ist. Die Terezín-Sommerakademie lässt sich davon nicht abschrecken. (Foto: Zdenek Sokol)

Erwin Schulhoff und sein Librettist Otto Rombach spitzten die Geschichte nach ihrer Façon zu, ließen die Mannschaft revoltieren, stellten die Verurteilung des Admirals heraus und schufen letztlich ein tönendes Argument für das Neue, das vom Volks gewollt ist. 1931 hatte das etwa 40 Minuten lange Stück seine Rundfunkpremiere in Frankfurt, ein Jahr später wurde es in Breslau szenisch realisierte. 2009 spielte die Ebony Band die "Royal Oak" ein, in der ursprünglichen Fassung für großes Jazzorchester. Sonst sind kaum Aufführungen bekannt. Vielleicht auch, weil es so schwer zu spielen ist. Für die Terezín-Akademie erstellte Frank Engel ein Kammerarrangement für sechs Musiker, einer Singstimme, einer Sprechstimme und einem kleinen Matrosenchor, den steuert die Prager Nationaloper bei.

Alle anderen sind Studierende aus Köln, und bis auf Fabio Cimpeanu, der Jazzschlagzeug studiert, dürften sie so etwas noch nie gespielt haben. Denn Schulhoff schreibt echten Jazz. Nicht den ja an sich herrlichen Als-Ob-Jazz im Stile Weills, an den man sich hier nur in den deklamatorischen Passagen erinnert fühlt. Schulhoff swingt lässig durch, und die Studierenden lernen dies unter der Leitung von Werner Dickel. Es ist vertrackt, manchmal fast polyrhythmisch, es gibt Tango und Walzer, aber was für ein Walzer. Einer vielleicht im Sinne von Duke Ellington. Dazu kommt ein permanenter Wechsel in der Struktur; Schulhoff kann Songs schreiben, auch Choräle (deshalb vielleicht ein "Oratorium", eher aber ist es eine Kantate), vor allem denkt er aber in größeren Abschnitten, baut größere Blöcke, auch mal rein instrumental.

Auf jeden Fall ist es Musik, die man so noch nie gehört hat. Die ganze Unternehmung ist ein enormes Ausrufezeichen und doch nur ein Anfang. Anfang einer vielleicht institutionalisierten, dauerhaft eingerichteten Akademie, als tschechisch-deutsche Kollaboration. In diesem Jahr war auch das Terezín Composers' Institute daran beteiligt, wurden neben der "Royal Oak" auch Werke von Komponisten gespielt, die in Theresienstadt leben mussten. Und dann ermordet wurden. Aber ihre Musik lebt.

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