Theater:Voller Würde, unvergesslich

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Eine Kraft, die nichts Triumphierendes hat und deswegen umso überzeugender wirkt: Jürgen Holtz als Galileo Galilei. (Foto: Matthias Horn/Berliner Ensemble)

Frank Castorf inszeniert am Berliner Ensemble von und nach Brecht "Galileo Galilei. Das Theater und die Pest". Wer sechs Stunden durchhält, wird mit einem so klugen wie begeisternden Schluss belohnt.

Von Jens Bisky

Nackt steht Jürgen Holtz, Jahrgang 1932, auf der Bühne des Berliner Ensembles und spricht von der Freude des Zweifelns, der Lust des Beginnens. Er ist Galileo Galilei, Lehrer der Mathematik zu Padua und will das kopernikanische Weltsystem beweisen.

Man sieht seinem Körper die 86 Jahre an, sieht Falten, Lebensspuren. Brecht hat sich seinen Vernunfthelden als prächtigen Mann vorgestellt. Jürgen Holtz gibt ihm eine Kraft, die nichts Triumphierendes hat und deswegen umso überzeugender wirkt, nicht entblößt, sondern selbstverständlich in sich ruhend. Diesem Mann, der die Bahn der Gestirne erkundet, glaubt man vom ersten Augenblick, dass er weiß, wie die Dinge auf der Erde laufen. Die neue Zeit beginnt mit einem gebrechlichen Leib. Auf der Bühne warten die Requisiten für das große historische Denkschauspiel auf ihren Einsatz: ein hölzernes Fernrohr, eine Bretterbude, ein Kirchturm, dessen Glocke häufig bimmeln wird, und die Leinwände für die Video-Projektionen.

Wie die von Galilei entdeckten Monde um den Jupiter kreisen um den berühmten, verschuldeten Mann Frau Sarti, die Stefanie Reinsperger mit ansteckender Lebenslust vom Dasein als Nebenfigur erlöst, und der sehr junge Schüler Andrea. Rocco Mylord spielt ihn passenderweise ungelenk und hibbelig wie einen, der weiß, dass er noch viel lernen muss, aber sich davon nicht einschüchtern lässt.

Die ersten neunzig Minuten dieses Galilei "von und nach Bertolt Brecht" vergehen wie im Fluge, sind voller schöner Theateraugenblicke. Frank Castorf stellt der Vernunftromantik programmatische Texte von Antonin Artaud an die Seite. Das Bühnenspiel sei wie die Pest eine Raserei, heißt es da, das Irrationale, nicht zu Kontrollierende wird beschworen. Und wenn dann Scheiße aus dem Eimer gefressen wird, folgt dem kurzen Ekel die beunruhigende Einsicht, dass es doch nur Theater ist. Um dieses dreht sich die Aufführung. Brechts Galilei schafft bekanntlich am 10. Januar den Himmel ab, es gibt nur noch Gestirne. Angesichts erschütterter Weltbilder und Hierarchien, auf einer Erde ohne Himmel gedeiht das Theater, der spielerische Weltentwurf, der kaum gefunden wieder zerbrochen wird.

Brecht hat sein Schauspiel im dänischen Exil in kurzer Zeit niedergeschrieben, es aber mehrmals umgearbeitet. Zum zeitgenössischen Hintergrund gehörten die Moskauer Schauprozesse, vor allem der gegen Nikolai Bucharin, die Bereitwilligkeit deutscher Wissenschaftler, die Aufrüstung des Dritten Reiches zu befördern, die Atombombe. Es ging um die Rolle der Vernunft. Castorf schafft es, die einzelnen Episoden neu, interessant zu erzählen. Wann immer Galilei auftritt, folgt man gebannt dem Zusammenspiel von Jürgen Holtz und der Souffleuse Christine Schönfeld. Die Sätze - das Stück enthält so viele bekannte Zitate wie ein Schiller-Drama - klangen frisch, als wären sie gerade erst ausgedacht. Aber die Spannung zwischen Brecht und Artaud trug nicht, blieb den gesamten Abend über ein Programmhefteinfall. Heiner Müller, in den Neunzigern einer der Intendanten am Berliner Ensemble, hatte die beiden nebeneinander gestellt: den Vorläufer Brecht, der das Denken für eines der größten Vergnügen der Menschen hielt, den Vordenker Artaud, der das Theater, die Literatur der Komplizenschaft mit der Macht entriss. Müllers Text wurde vorgetragen, prägte aber nicht die Inszenierung. Beides - Vernunft und Grausamkeit, Vergnügen und Qual - liefen nebeneinander her, routiniert inszeniert, aber doch ein Gewitter ohne Blitze.

Castorf-Fans ruckelten unruhig auf ihren Sitzen. Wie es sich gehört, gingen einige empört oder gelangweilt in der Pause, von jungen Leuten sogleich um die Karten gebeten, die wenigstens die zweite Hälfte sehen wollten. Die zog sich. Die kluge Frage des kleinen Mönchs, wer den einfachen Leuten, den immerfort Arbeitenden das Leben erträglich mache, ihrer Mühsal Sinn verleihe, wenn es keinen Himmel mehr gebe, wird so weggespielt. Der große Konflikt mit der Obrigkeit, die Galilei zum Widerruf zwingt, scheint Castorf nicht zu interessieren. Auf einer Streckbank fürchtete sich Jeanne Balibar als Galilei vor der Inquisition. Das sei aber eine scharfe kirchenkritische Szene, hieß der Kommentar. Nach der gelungenen, langen Exposition folgte also nicht mehr viel Aufregendes. Aljoscha Stadelmann und Wolfgang Michael improvisierten und boten Scherze über Castorf und den Theaterbetrieb: Irgendwann in der vergangenen Woche habe man den Faden verloren. Mit dem Verweis auf "Me too" unterbrachen die Bühnenfrauen die langen Erklärungen und kamen doch nicht zu Wort. Zwischen Brecht und Artaud sollte die Pest Verbindung stiften. Den Einbruch der Unordnung, der Anarchie hat man jedenfalls selten so brav choreografiert gesehen. Die Drehbühne drehte sich, Getrappel, Gerede, Musik.

Nicht vier, nicht fünf, sondern sechs Stunden dauerte die Premiere, aber alle die vor dem Ende gingen, verpassten einen klugen, begeisternden Schluss, genauer - und Brechts Schauspiel angemessen - eine Kaskade von Schlüssen. Sie begann mit der Information über die Umarbeitungen des Textes durch Brecht, Dramaturgen-O-Ton sozusagen. Und dann trat wieder Jürgen Holtz auf, präsent, die Bühne füllend und erklärte, Wörter suchend, Ausreden vermeidend, das Verhalten Galileis, das Verhängnis des Widerrufs. Hätte er den Drohungen widerstanden, wäre es möglich gewesen, eine Selbstverpflichtung der Naturwissenschaftler zu formulieren, so wie die Ärzte ihren hippokratischen Eid haben. Das Gelöbnis sollte es sein, "ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden". Es habe in seiner Hand gelegen, sei er doch einige Jahre so stark gewesen wie die Obrigkeit. Beim Lesen wirkt dieser Monolog leicht zu belehrend, als solle mit erhobenem Zeigefinger eine Nutzanwendung zum Mitschreiben präsentiert werden. Jürgen Holtz vermied das Oberlehrerhafte, sprach zögernd wie ein alter Mann, der auf einen verpassten Augenblick zurückblickt, der mit sich selbst nicht ins Reine kommt, weil er sich für einen Verräter hält, halten muss. Dann erhob er sich und ging: "ich muss jetzt essen". Das letzte Wort aber hatte gegen Mitternacht Rocco Mylord, der immer noch junge Andrea, mit der ganz unpathetischen, aller Feierlichkeit beraubten Feststellung, wir stünden wirklich erst am Beginn.

Bei Brecht stehen geschlossene Weltbilder im Bündnis mit der Obrigkeit und einer hierarchischen, empörend ungerechten Sozialordnung. Ob dies heute noch stimmt? Ob nicht vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der die Offenheit, Widersprüchlichkeit, Inkonsistenz von Weltbildern hingenommen werden, zur Gleichgültigkeit verführt, zur Weigerung, Zusammenhänge zu erkennen? Castorf hat seinen Galileo Galilei nicht aktualisiert, hat ihn nicht auf Gegenwart und die Welt da draußen bezogen, sondern vor allem auf sein Metier, das Spiel mit Theater und Pest. Dabei sind, verlorene Fäden hin oder her, einige bezaubernde, intensive Momente entstanden und eine im Januar sehr willkommene Schlussheiterkeit, die gerade recht kommt in einer Zeit der schlechten Laune, des omnipräsenten Pessimismus. Daher kann für die Zukunft auch eine Wette gewagt werden. Wenn Theaterfreunde dereinst über das Jahr 2019 reden, werden sie vermutlich sagen: Das war die Spielzeit mit Jürgen Holtz als Galileo Galilei, nackt, voller Würde, unvergesslich.

© SZ vom 21.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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