Sci-Fi-Theater:Zu viel Mensch

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Der Titel von "Anfang und Ende des Anthropozäns" klingt dystopischer, als dann der Text auf Humorpfoten am Staatstheater Nürnberg daherkommt. (Foto: Konrad Fersterer)

Weil es schlimm um die Welt bestellt ist, probt das Theater schon mal die Zukunft. Aber in den neuen Science-Fiction-Stücken steht auch nicht alles zum Besten. Drei Beispiele.

Von Christine Dössel

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Von wegen Fortschrittsintelligenz! In dem neuen Stück von Philipp Löhle ist der Mensch von morgen komplett verblödet. Sein IQ nahm in dem Maß ab, in dem er das selbständige Denken auf seine high-technischen Gerätschaften ausgelagert hat. Nur mithilfe seines Smartphones weiß er noch Tiere zu unterscheiden und Dinge zu benennen. Weshalb es sofort auffällt, als der Mann Nr. 27 zu einem Buch greift, so richtig einem Ding mit Seiten. Es ist zwar nur ein vergammeltes Kochbuch. Aber zu spät. Schon sind zwei Agenten zur Stelle und führen ihn ab. 27 gilt jetzt als Intelligenzbestie und wird gebraucht für Fortpflanzungszwecke zum Erhalt einer einigermaßen denkfähigen Gattung.

Die Welt liegt im Argen, deshalb hat das Theater, dieser urälteste Wasserstandsmelder, Mahner und Krisen-vor-Augen-Führer, gerade alle Hände voll zu tun. Mit Blick auf die Klimakatastrophe, den Gesellschaftswandel, die Möglichkeiten von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz wird auf den Bühnen allenthalben die Zukunft geprobt, und es gibt dafür einen Nachschub neuer Stücke auf der Kipphöhe der Zeit.

Generell tut sich das Theater mit Science-Fiction-Stoffen eher schwer, das Kino ist ihm da weit voraus

"Anfang und Ende des Anthropozäns" von Philipp Löhle ist so ein Stück. Man muss davor nicht erschrecken. Der Titel klingt dystopischer, als der Text auf Humorpfoten daherkommt. Löhle, Hausautor am Staatstheater Nürnberg, wo sein Stück in den Kammerspielen uraufgeführt wurde, bleibt sich und seinem Ruf als komödiengewitzter Dramatiker treu. Da ist vieles lustig und gut erfunden, aber nur weniges tut - hier - weh. Es schmerzt eher nur die übertourige Blödelei mit zu viel Geschrei, die der Intendant Jens-Daniel Herzog auf der Bühne zulässt bzw. veranstaltet. Es ist seine erste Regie im Schauspiel seit seinem Amtsantritt 2018. Er inszenierte zuletzt nur Opern. Das merkt man an diesem Abend, dem es an Feinjustierung fehlt.

Generell tut sich das Live-Genre Theater mit Science-Fiction-Stoffen eher schwer. Das Kino ist ihm da mit seinen Bildwelten nicht nur weit voraus, sondern prägt damit auch unsere Vorstellung und Anspruchshaltung. Ein großer, verschiebbarer Plastikrahmen in Bildschirmform, wie er in Nürnberg als multifunktionales Requisit für die Zukunftswelt dient, stinkt dagegen schon mal ab (Ausstattung: Mathias Neidhardt); auch wenn die fantasievolle Analogumsetzung prinzipiell einen besonderen Charme haben kann (könnte) und natürlich auch die Nürnberger mit Videoprojektionen (Karolin Killig) arbeiten. Aber es schaut doch immer ein wenig nach ambitioniertem Jugendtheater und Unterfinanzierung aus. Wo wir die Zukunft doch von Regisseuren wie Ridley Scott und Christopher Nolan viel hochwertiger kennen.

Wenn die Menschheit baden geht: Anna Klimovitskaya, Nicolas Frederick Djuren, Llewellyn Reichman und Raphael Rubino (v. l.) in "Anfang und Ende des Anthropozäns". (Foto: Konrad Fersterer)

Inhaltlich hat das Theater mehr zu bieten, meist komplexere, originellere, intellektuellere und aktuellere Geschichten und Themen als das Kino. In Löhles Stück zum Beispiel bleibt es nicht bei dem anfänglichen Zukunftsszenario, in dem die Menschen sich zu Primaten zurückentwickeln, was die Geheimaktion W.S.P. ("World Stupidicity Program") stoppen soll. 27, der sich mit der ebenfalls unter Restintelligenzverdacht stehenden 42 in einem Institut paaren soll (und gar nicht weiß, wie das geht), bricht mit dieser aus, vorbei an einem selten doofen Pförtner. Und dann fliegen sie mit einem selbstfliegenden Flugzeug davon. Sie fliegen und fliegen, und dabei nimmt das Stück plötzlich einen neuen Kurs. Es landet bei jener Geschichte, die 42 von ihrem amerikanischen Onkel John erzählt. Der lebte zu einer Zeit, als es die Vereinigten Staaten von Amerika noch gab, die Menschen noch Fleisch aßen und mit Benzin fuhren. Also Gegenwart.

Erzählt wird, wie John seinen Sohn verliert und dann eine Reise zu den Sentinelesen antritt, einem isoliert lebenden Volk auf den Andamanen. Dort frönt er erst seinem Zurück-zur-Natur-Eskapismus, bevor er, von Pfeilen durchbohrt, im Kochtopf der Wilden landet. Echt jetzt? Zumindest wird das auf der Bühne mit viel Tohuwabohu und einem kopfüber an einem Seil baumelnden John (Raphael Rubino) ausgespielt - bis sich das Ganze, ällabätsch, als Fake der indigenen Bevölkerung herausstellt: So also denkt ihr über uns?

Atommüll mit Raketen ins All schießen? Eine Super-GAU-Idee

Da sind wir schön reingefallen auf alte Kannibalen-Klischees und Löhles Finten. Und schon geht es weiter im Staffellauf dieses schachteldramaturgisch erzählten Textes. John begegnet im Traum seinem toten Sohn, und dabei kommen nun jene beiden Personen ins Spiel, die den Jungen auf der Landstraße totgefahren und das gar nicht gemerkt haben (wollen): der Este Taivo (Felix Mühlen) und die Holländerin Svantje (Pauline Kästner), zwei Wissenschaftler auf dem Weg zu einem Kongress in Georgia. Das Stück biegt nun ab in eine Liebes- und Katastrophengeschichte. Svantje und Taivo werden ein Paar und entwickeln ein Verfahren, Atommüll mittels Raketen im All zu entsorgen. Das ist erst ein Riesenerfolg und dann, als eine Rakete explodiert, ein Super-GAU.

Das Stück endet mit der gleichen Szene, mit der es begann, denn das ist einer von Löhles Clous: dass es eine Endlosschleife bildet. "Das Stück läuft schon ewig und es wird ewig weiterlaufen", gibt der Autor vor. Oder, wie es einmal im Text heißt: "Wie wenn man in so ein Muster reinschaut, und in dem Muster ist ein Muster, in dem ein Muster ist ..." Um welches Muster es sich hier handelt, ist klar: jenes, nach welchem der Mensch in seinem Machbarkeitswahn immer wieder Katastrophen anrichtet und sich im Schlamassel verzettelt. Aber auch der Drang, Geschichten zu erzählen, ist so ein Pattern. Löhle tut das auf ausschweifende Weise. Nur fehlt es an Nachhaltigkeit im Eindruck und in der Wirkung.

Hier kommt die personifizierte künstliche Intelligenz aus einem Pappkarton - und ist mal wieder ein Mann: "In letzter Zeit Wut" von Gerhild Steinbuch am Schauspiel Frankfurt. (Foto: Felix Grünschloß)

Ganz anders gelagert, nämlich explizit feministisch grundiert, ist "In letzter Zeit Wut" von der österreichischen Autorin Gerhild Steinbuch, Jahrgang 1983. Es handelt sich um eine Überschreibung der antiken Komödie "Die Frauenvolksversammlung" von Aristophanes, uraufgeführt am Schauspiel Frankfurt. Im Zentrum: vier Frauen, prekär beschäftigt bei einem Social-Media-Unternehmen als Content-Moderatorinnen, sprich: Ausputzerinnen. Ihre Aufgabe ist es, problematische Bilder zu löschen, Gewalt, Tierquälerei, Penisse. Ihr Chef ist ein selbstgefälliger Horst (Isaak Dentler), der tänzelnd den Ton angibt und die Welt erklärt. Auch witzelt er gerne: "Wie gendert man Metropole? - Innenstadt." Ein echter Vollhorst.

Die Möglichkeit, an der Männerdominanz und überhaupt am gesellschaftlichen Ist-Zustand etwas zu ändern, kommt mit einer Art Smartwatch ins Spiel - einer Uhr, die es möglich macht, die Geschichte zu "hacken", in der Zeit herumzureisen, zum Beispiel zu den Amazonen oder in ein utopisches "Herland", und dort die Bilder zu ändern: "Reboot. Alles auf Anfang". Der Instrukteur für diese virtuelle Zapperei ist auch wieder ein Mann (Uwe Zerwer). Er spricht ein smartes Deutsch-Englisch ("my Botschaft die is universal") und kommt in der braven Kehraus-Regie von Christina Tscharyiski als personifizierte KI aus einem Pappkarton. Nun ja. Wieder einmal schaut das Sci-Fi-Theater billig aus. Die Bühne ist eine Art Plenarsaal im holzgetäfelten Halbrund, Teppichboden und Gummibaum. Miefigste Behördenanmutung. Und in den zeichenhaften XL-Kostümen, hilfe!, sehen die Figuren aus wie Dienstleistungs-Samurais und Pierrots. Irgendwie nicht ernst zu nehmen.

Den Mann abschaffen? Einen Frauenstaat gründen? Viel Feminismustheorie steckt in diesem diskurslastigen Stück, verbunden mit der Frage, wie solidarisch sind Frauen eigentlich? Und wer macht am Ende den Dreck weg? Wie sich Sarah Grunert, Katharina Linder, Melanie Straub und die drollige Tanja Merlin Graf daran abarbeiten, bleibt zu zahm, zu lahm. Die behauptete Wut sprüht keine Funken. Und am Ende punktet vor allem einer: Horst.

Avatare im digitalen Bällebad: Szene aus "Hotel Pink Lulu" von Emre Akal, uraufgeführt in der Diskothek am Theater Leipzig. (Foto: Rolf Arnold)

Vollends in eine digitale Ersatzwelt führt das Stück "Hotel Pink Lulu" von dem in München lebenden Autor Emre Akal. Uraufgeführt wurde es am Schauspiel Leipzig, wo derzeit wegen der Pandemie kein Spielbetrieb stattfindet. Was sich insofern bitter fügt, als auch bei Akal eine Art ewiger Lockdown angedeutet wird, in dem der Staat zur Einlullung der Bürger ein "Virtual-Reality-Arche-Projekt" eingerichtet hat: Hier kann nach dem Check-in als Avatar jeder seinen größten Wunsch ausleben. Sei es, in einem Marshmallow-Bett zu liegen und zu schlemmen, ohne zuzunehmen, wie Claudia aus Köln. Oder sich auf jene Pistazienfarm in Syrien zurückzuträumen, wo der geflüchtete Najib herkommt.

Mit welch eigenartiger Fantasie die Regisseurin Pia Richter diese VR-Welt in ein Bällebad mit drei Becken und Rutsche verlegt, hat ihre Reize (Bühne und lustige Kostüme: Julia Nussbaumer). Als digitale Hostesse fungiert Lulu 6.0, die als KI ständig dazulernt, staunend über "so viel Mensch, diese Biomasse". In Leipzig gibt es sie gleich in zweifacher Ausführung mit rosa Lackstrapsen, humanroboterhaft nett gespielt von Annett Sawallisch und Thomas Braungardt. Als Lulu Gefühle entwickelt, wird sie ausrangiert. Denn natürlich zeigt das vermeintliche Schlaraffenland, wie in jedem richtigen Sci-Fi-Horror, auch Albtraumzüge. Das System dahinter erweist sich als ausbeuterisch, elitär und böse. Es lässt die Kassiererin Fatma (die anrührendste Figur, gespielt von Christoph Müller) gar nicht erst rein - und andere nicht mehr in die Analogwelt raus.

Emre Akal bedient viele Stereotype und reißt von Transgender über Bodyshaming bis hin zu Krieg, Migration und Kapitalismuskritik einen Haufen Themen an, nicht zugunsten der Figurenzeichnung. Aber es steckt in seinem Stück eine große Sehnsucht nach analoger Menschlichkeit. Und genau das ist es, was das Theater anderen Medien voraushat: die analoge Menschlichkeit.

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