Theater:Schaumschädel

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Weiter geht's im Eröffnungsreigen der Münchner Kammerspiele: Ein Liebes-Abend. Eine Dokumentation über unser aller Debatten-Inkompetenz. Und Ernst Toller...

Von Christiane Lutz

Bescheidenheit gilt zu Unrecht als etwas langweilige Tugend. Sie ist aktuell schwer in Mode, sofern man sie mit Genügsamkeit gleichsetzt, also der Fähigkeit, sich zufrieden zu geben. Bescheidenheit heißt, sich von Maßlosigkeit und Größenwahn zu lösen. Bescheiden ist aber vor allem, wer seine Qualitäten kennt und einsetzt, ohne dabei zu viel eitles Tamtam um sich selbst zu machen. Kunst an sich und Theaterintendanten im Speziellen bringt man eher selten mit dem Attribut "bescheiden" in Verbindung, sind es doch eben der Größenwahn und eine gewisse Hybris, die, außer viel Frust zu verursachen, hin und wieder die Grenzen des möglich Geglaubten sprengen und Platz für Großartiges machen. Wenn die neue Intendantin der Münchner Kammerspiele Barbara Mundel ankündigt, sie wolle Theater für die Menschen dieser Stadt mit allen Menschen dieser Stadt machen, dann klingt daraus eine Bescheidenheit, die sich selbst nicht als Mittelpunkt der Welt begreift. In den ersten zwei Wochen fächern die Kammerspiele dann ein Angebot auf, bei dem für jeden was dabei ist und sehr diverse Stimmen auf der Bühne zu Wort kommen. Am Wochenende hatten nun drei weitere Stücke Premiere: Ernst Tollers "Eine Jugend in Deutschland", das Doku-Projekt "The Assembly" und das feministische Stück "Liebe. Eine argumentative Übung" von Autorin Sivan Ben Yishai.

Wobei "Liebe" der schwächste Abend ist. Ein Solo, inszeniert von Heike M. Goetze (auch verantwortlich für Kostüm und Bühne) mit Johanna Eiworth. Der flotte, ironische Text, nominiert bei den Mühlheimer Theatertagen, verhandelt das Seelenleben von Olivia, der schlacksigen Gefährtin des Comic-Helden Popeye. Es geht um ihr feministisches Dilemma, sich einerseits nicht von einem Mann abhängig machen zu wollen, es andererseits doch ganz schön zu finden, von ihm in den starken Arm genommen zu werden. "Auf eine Art spürte sie, dass es keine Zeit für Feminismus gibt, wenn jemand dir eine Liebesgeste schenkt", heißt es. Gern würde sich Olivia von ihrem Freund oral befriedigen lassen, ekelt sich aber vor sich selbst. Während Popeye, Überraschung, hemmungslos seinen Trieben nachgeht. Einsame Lacher im Publikum. So weit, so oll. Könnte man mit einem Augenzwinkern lösen.

Olivia (Johanna Eiworth), Gefährtin des Comic-Helden Popeye, scheitert in „Liebe“ an ihrem eigenen Feminismus. (Foto: Judith Buss Fotografie; Kammerspiele München)

Goetzes Arbeit aber ist vollkommen humorbefreit und nimmt viel zu ernst, was keine ernst zu nehmende Feministin ernst nimmt. Eiworth rüttelt und schüttelt sich wortlos eine Dreiviertelstunde lang nackt auf der Bühne, als versuche sie, ihren Körper loszuwerden, während der Text an ein natürlich rosafarbenes Haus projiziert werden. Dann zieht sie sich an und rattert den Rest des Textes runter. Das ist wahrscheinlich radikal und provokant gemeint, aber einfach nur nervig und belanglos. Der Feminismus hat drängendere Anliegen, als die Sorge, untenrum nicht gut zu riechen. Anliegen, die Regisseurinnen wie Leonie Böhm oder Nora Abdel-Maksoud auf der Bühne verhandeln, sogar mit Freude.

Gehaltvoller geht es im Werkraum bei "The Assembly / Die Versammlung" zu. Debatten sind gewinnbringend - solange man sie mit Menschen führt, die der eigenen Meinung zuneigen. Mit allen anderen? Vergiss es. So etwa lautet das Fazit des kanadischen Kollektivs "Porte Parole", das Treffen mit Menschen unterschiedlicher politischer Standpunkte veranstaltet. Ihr tatsächliches Gespräch wird anschließend als Theaterabend inszeniert, in München macht das Chris Abraham. Am Tisch sitzen nun: Can, ein türkischstämmiger Mann. Katja, 17, Anarchistin, Antirassistin, Feministin. Sigrid, ehemaliges CSU-Mitglied und Juristin im Bamf. Und Zuhal, die findet, man müsse einander mehr zuhören.

In „The Assembly“ scheitern vier Menschen an einem Dialog (im Bild Nancy Mensah-Offei). (Foto: Kammerspiele München)

Musik plätschert, Talkshow-Atmosphäre, Smalltalk. Doch binnen kurzer Zeit sind alle Schlagworte aktueller Debatten ausgespuckt: Rassismus, Antisemitismus, Feminismus, Fridays for Future, Nazis, CSU, Flüchtlinge, Muslime, das N-Wort, Religionsfreiheit, Heimat, Horst Seehofer. Die Moderatorinnen Annette Paulmann und Wiebke Puls haben Mühe, dieses Reizwortwerfen zu lenken. Can (Nancy Mensah Offei) möchte sich von Feministin Katja (Zeynep Bozbay) nicht den Mund verbieten lassen. Sigrid (Edmund Telgenkämper) muss sich für ihre CSU-Vergangenheit rechtfertigen und Zuhal (Jelena Kuljič) findet, dass Männer genetisch einfach geeigneter sind, Führungspositionen auszufüllen.

Es geht nicht um die Bewertung einzelner Positionen, nicht einmal um Konsens, sondern um den Versuch, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Wo aber jeder Standpunkt ideologisch aufgeladen ist, wo sofort verurteilt wird, bevor das Gegenüber seinen Satz beendet hat, ist eine fruchtbare Debatte unmöglich. Das ist freilich keine neue Entdeckung, man kann das zuverlässig in TV-Talkrunden und in den sozialen Medien beobachten. Doch es ist quälend spannend, diesem Scheitern zuzusehen. Am Ende können sich dann doch alle so etwas wie einig werden - auf einen nicht anwesenden AfD-Sympathisanten als gemeinsamen Gegner. Deprimierend simpel. "The Assembly" ist ein frustrierendes Zeugnis einer leider sehr realen, gesellschaftlichen Debatten-Inkompetenz.

Der kleine Ernst Toller lernt in der Schule, dass er seinem Lehrer (Sebastian Brandes) auch nicht alles glauben kann. (Foto: Kammerspiele München)

Mit dem Wunsch nach mehr Diversität im Theater knüpft Mundel auch an ein Leib- und Magenthema ihres Vorgängers Matthias Lilienthal an. Einen Abend wie "Eine Jugend in Deutschland" hätte es unter Lilienthal aber wohl nicht gegeben, inszeniert von Jan-Christoph Gockel, unterstützt von Puppenspieler Michael Pietsch und Musiker Anton Bermann. In knapp vier Stunden zeichnet Gockel ein melancholisches, fast zärtliches Porträt von Ernst Toller, Autor und Sozialist, der die Novemberrevolution in München 1918 mit anführte. Den Roman kann man schon noch machen, auch wenn er sich 2020 etwas verspätet anfühlt, gedachte man der Räterepublik doch schon 2019. Auf einer schlichten Drehbühne (Julia Kurzweg) erzählt er Tollers Leben in sechs Folgen, jede anders angelegt, als Film, Revue, politische Rede und Marionettentheater, angereichert mit Briefen und Passagen aus Tollers Theaterstücken. Der Ideenreichtum ist enorm: Napoleon grüßt, Hitler taucht auf in einem Schwank über das "Hotel "Vier Jahreszeiten" als Treffpunkt für Bald-Nazis. Den Marionetten kommt in der Inszenierung eine ganz neue Qualität zu, nämlich die als Wangenstreichler und Kampfgegner, wo Corona sonst Abstand erzwingt. Während der Folge über den Ersten Weltkrieg, in den Toller freiwillig zieht und aus dem er als Pazifist zurückkehrt, verlieren die Puppen die Gliedmaßen, einsam rotiert ein Haarschopf auf der Bühne, Julia Gräfner reißt einer den Schaumschädel auf. Sicher, die Inszenierung braucht die Puppen nicht. Sie zu haben, ist Spielerei und Luxus, mal ganz unbescheiden argumentiert. Den Neuen im Ensemble zuzuschauen - etwa Sebastian Brandes, Julia Gärfner, Martin Weigel und Bekim Latifi -, macht Laune, Gro Swantje Kohlhof und Walter Hess, alte Bekannte des Publikums, sind ohnehin eine Freude.

Auch Gockel muss seine Kunst wohl als dienend und gewissermaßen bescheiden begreifen. Er strengt sich jedenfalls sehr an, Tollers Wirken erfahrbar zu machen: unmissverständlich, schnörkellos und mit ein paar verzichtbaren ProseminarMomenten. Mit dem Einschub über Sozialistin Sonja Lerch etwa macht Gockel vorbildlich den feministischen Punkt in einer männerdominierten Geschichte. Das wirkt aber gezwungen und eher wie der Wunsch, es bloß allen recht zu machen.

Ein weltgeplagter Ernst Toller (Walter Hess) lässt sich von einer Marionette trösten. (Foto: Kammerspiele München)

Sei's drum, "Eine Jugend in Deutschland" ist ein kluger Abend und Toller ein von einem unermüdlichen Ensemble gespielter, kaum totzukriegender Utopist, der am Ende nicht verkraftet, dass die Welt wieder auf einen Krieg zusteuert. 1939 nimmt er sich das Leben. Er appelliert: "Wo seid ihr, junge Menschen? Ich sehe euch nicht, doch ich weiß, dass ihr lebt." Toller sei sehr bescheiden gewesen, heißt es. Einer, der sich selbst nicht als Nabel der Welt gefiel, sondern an die da draußen dachte, für die er kämpfte.

© SZ vom 20.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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