Uraufführungen im Münchner Marstall:Glüh, Birne!

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Im Spiegel der Vergangenheit: Juliane Köhler (links), Charlotte Schwab und Sibylle Canonica (hinten) teilen sich Annie Ernaux' autobiografische "Erinnerung eines Mädchens". (Foto: Sandra Then)

Anja Hilling überschreibt in "Teile (hartes Brot)" ein Stück von Paul Claudel. Silvia Costa teilt Annie Ernaux' "Erinnerung eines Mädchens" auf drei gestandene Frauen auf.

Von Christine Dössel

Vielleicht müssen wir uns an das Analogtheater ja erst wieder gewöhnen. Ohne die Erwartungen nach der monatelangen Abstinenz zu hoch zu schrauben. Theater, erinnert Euch, ist sowieso nie das, was man sich von ihm verspricht. Also erst mal Nachsicht - und runter von der Anspruchshaltung. Sonst kann es bitter werden. Etwa weil man auf der Bühne Sachen sieht, für die man das Theater rütteln und schütteln möchte, weil es genau dafür von so vielen als langweilig, abgehoben und insiderisch abgetan wird, leider zu Recht. Anja Hillings Stück "Teile (hartes Brot)" im Marstall des Münchner Residenztheaters ist so ein Fall: buchstäblich hartes Brot. Das hungrige Publikum abgespeist mit Theater-Kryptologie. Die Enttäuschung wurde allerdings bei der zweiten Marstall-Premiere wettgemacht: Annie Ernaux' "Erinnerung eines Mädchens" ist zarte, formstrenge Imaginationskunst, durchaus mit Betonung auf Kunst.

Die Negativerfahrung zuerst. In "Teile (hartes Brot)" überschreibt Anja Hilling einen wenig bekannten Stoff von Paul Claudel: "Das harte Brot", den Mittelteil einer historischen Trilogie, die der tief religiöse Franzose zwischen 1908 und 1916 verfasste, in einer Zeit des Wandels, in der er den ökonomischen Materialismus um sich greifen sah, einhergehend mit ausbeuterischen Mechanismen und einer Abkehr der Menschen von Gott. Figuren wie der zu Geld und Macht gekommene Turelure und sein ihm verhasster Sohn Louis sind getrieben von Gier. Die Frauen an ihrer Seite treten zur Selbstermächtigung an und intrigieren auf ihre eigene Weise. Dabei geht es viel um Geld, denn das regiert die kapitalistische Welt.

Hilling streicht das historische Beiwerk und setzt das Stück in heutige Koordinaten, bleibt dabei aber denkbar abstrakt, verquast und pathetisch. Wer mehr von dem Abend haben will als den Eindruck einer seltsam kultischen Veranstaltung (es ist auch immer von einem "Tempel" die Rede), der sollte sich vorher ein bisschen einlesen und dürfte selbst dann noch seine liebe Not haben mit dem verkünstelten Moralismus und dem pseudoemanzipatorischen Furor dieses Auftragswerks. Der Text ist, freundlich gesagt, total hermetisch.

Im futuristischen Installationstempel: die vermummte Freiheitskämpferin Lûmir (Mareike Beykirch) und der Glühbirnen-Potentat Lord (Nicola Mastroberardino) in "Teile (hartes Brot)" von Anja Hilling. (Foto: Sandra Then)

Bei Hilling ist der Ausbeuter Turelure ein Glühbirnenfabrikant, genannt "Lord". Von einer Empore blickt er in einem Goldbrokatmantel, Design Gangsta-Rap, herab auf uns armselige Zuschauer, die wir, zu siebzigst nur, mit FFP2-Masken im Raum sitzen, auf abstandsgenau platzierten Stühlen statt auf der üblichen Tribüne. Jede(r) musste am Eingang einen negativen Corona-Test vorzeigen (ein Testzelt steht direkt vor dem Marstall). Zur Belohnung gibt es nun diesen nihilistischen Licht-Guru, der ein Hohelied der Ausbeutung singt. Oh Lord! Gespielt wird er von Nicola Mastroberardino, den man anfangs gar nicht erkennt, weil er einen Ganzkörper-Strampler trägt, der ihn aussehen lässt wie Spiderman, nur nicht in Rot-Blau, sondern in orientalischer Bronze-Musterung, die sich als Videoprojektion fortsetzt über das gesamte Mauerwerk. Das immerhin ist ein schöner Effekt.

Ein Abend ist hilfloser Effektquark, der andere besticht mit Fingerspitzengefühl

Ein Leuchtmittelfabrikant also - keine Lichtgestalt. Das Metall für den Draht in seinen Glühbirnen wird in afrikanischen Minen abgebaut, da kümmert sich Sohn Louis drum, ein eher kleines Licht (Valentino Dalle Mura mit Lederkorsage). Ganz mieses Vater-Sohn-Verhältnis. An seinem Mordkomplott gegen den Lord beteiligen sich auch die beiden angestrengt lasziven Frauen: die E-Zigaretten rauchende Möchtegern-Kleopatra Sichel (Nicola Kirsch) und die entschlossen sich den Lippenstift verschmierende Lumir (Mareike Beykirch) im schwarzen Overall einer Aufständischen, aber mit Beinschlitz-Reizung (Kostüme: Janina Brinkmann).

Die Bühne von Paul Zoller zeigt eine futuristische Plexiglas-Installation aus Stegen, Streben und Leuchtstoffröhren. Die Lichtschwert- und Geschlechterkämpfe, die die Hausregisseurin Julia Hölscher hier inszeniert, sind hilfloser Effektquark. Theater zum Abgewöhnen. Beziehungsweise zum nicht-wieder-Angewöhnen.

Ganz anders der subtile Regiezugang von Silvia Costa bei der Umsetzung von Annie Ernaux' Buch "Erinnerung eines Mädchens" (in Frankreich erschienen 2016, auf Deutsch 2018). Die hierzulande erst spät entdeckte französische Schriftstellerin, gefeiert als die "Königin der neuen autobiographischen Literatur" ( Die Zeit), erzählt darin von ihrem ersten Mal. Wie sie, das katholische Kleinstadtmädchen aus einfachen Verhältnissen, im Jahr 1958, mit damals 18 Jahren, als Betreuerin in eine Ferienkolonie kommt und dort Sex mit H hat, dem vier Jahre älteren Chefbetreuer. Ein traumatisches Erlebnis.

"Ich frage mich, was es bedeutet, wenn eine Frau Szenen vor ihrem inneren Auge ablaufen lässt, die über fünfzig Jahre zurückliegen": Charlotte Schwab, Juliane Köhler und Sibylle Canonica. (Foto: Sandra Then)

Es ist im Grunde eine Vergewaltigung, auch wenn nie dieses Wort fällt und die erwartungsvolle Annie ja auch unbedingt etwas mit einem Jungen haben wollte. Allerdings war das, was sie sich erhofft hatte, in ihrer naiven, von Romanen und Schlagern dominierten 50er-Jahre-Vorstellung verbunden mit der großen Liebe - und nicht diese rohe Selbstbedienung eines Mannes an ihrem Körper. Die psychosoziologische Aufarbeitung dieses Ereignisses, das eine unermessliche Scham in ihr ausgelöst hat, erfolgte erst 55 Jahre später. Wie sachlich-ethnologisch Annie Ernaux diese Rückschau betreibt und dadurch ihre persönliche Erinnerung zu einer allgemeinen macht, ist die eigentliche Sensation ihres Schreibens.

Silvia Costa, geboren 1984 in Treviso, lässt in ihrer performativen Annäherung an den Text viel Fingerspitzengefühl und ästhetisches Formbewusstsein walten, dazu eine wasserglucksende Soundcollage. Dass sie 13 Jahre lang künstlerische Mitarbeiterin des für seine starken Setzungen bekannten Regisseurs Romeo Castellucci war, sieht man der Arbeit an. Das ist positiv gemeint. Wie Castellucci gestaltet sie die Bühne selbst. Ein dunkelgrün gestrichener Raum der Erinnerung. Tischlampen auf dem Boden, zwei stilisierte Türen, ein rechteckiger Fensterschlitz. Alles genau an seinem Platz, auch jede Geste, jede Verrichtung ihrer Protagonistinnen.

Die Regisseurin teilt den Text gleichberechtigt auf drei nicht mehr junge Frauen auf: Juliane Köhler, Sibylle Canonica und Charlotte Schwab, ein exquisites Dreigestirn, blond, rothaarig, brünett. Alle drei haben die Haare schön und bringen feine Reize ins Spiel. Die Regisseurin lässt sie während des Sprechens vieles tun: mit Spiegeln spielen, Fäden spannen, Wäsche sortieren, Fotos entwickeln, all sowas. Das ist oft zeigefingersymbolisch, vor allem ist es: viel. Dennoch hat der Abend eine suggestive Kraft, eine sehr weibliche. Beim Schlussapplaus verbeugen sich sieben Frauen, kein einziger Mann. Wo gibt es denn das?

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