Theater:Dämonen

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Eine Geschichte voller Sehnsucht und Gewalt erzählt die aus Mosambik stammende Maria Domingos Tembe in "Solo für Maria". (Foto: Fernando Nhavene)

Maria Tembes unfassbar großartiges "Solo für Maria" beim "Spielart"-Festival im Gasteig

Von Egbert Tholl

Die Begegnung mit Maria Tembe gehört zum Außerordentlichsten, was man seit langem im Theater erleben konnte. Beim "Spielart"-Festival tanzt sie im Carl-Orff-Saal ihr "Solo für Maria", das sie mit dem Choreografen Panaibra Gabriel Canda, beide aus Mosambik, entworfen hat. Die Aufführung ist nicht nur unendlich anrührend, beklemmend, ergreifend, sie ist auch unglaublich klug.

Tembe hat keine Beine, worüber sie kein Wort verliert. Sie hat zwei Beinstümpfe, Reste ihrer Oberschenkel. Der Vorhang geht auf, und da sitzt ein Mensch. Dann beginnt dieser Mensch, sich zu bewegen, man hört nur Tembes Bewegungen, das Patschen ihrer wunderschönen, alle Geschichten der Welt erzählenden Hände, das dumpfe Pochen, wenn ihre Beinstümpfe auf den Boden aufschlagen. Erst einmal erzählt sie mit ihrem Körper die Geschichte einer Sehnsucht. Sie will Ballett tanzen, vollführt auf aberwitzige Weise an einer Wand im Hintergrund der Bühne jene Bewegungen, die Ballertänzerinnen an der Stange proben. Dann setzt unvermittelt Musik ein, ein Song von Billie Holiday, und der Drang, Ballett tanzen zu wollen, wird zur Qual. Irgendwann streift sie das Tutu ab, legt die verfluchte Bürde, ihren Dämon, als Kreis vor sich ab.

Es geht nicht darum, dass Maria Tembe ohne Beine mehr kann als viele Menschen mit. Das ist hier kein Zirkus. Candas Choreografie ist äußerst präzise, streng und krass. Tembe schlüpft in ein Kleid, das viel zu lang für ihren Körper ist, es umhüllt sie wie ein Zelt. Die Not, für die das Tutu stand, ist sie losgeworden, nun kommt der Horror. Nirvanas Song "Rape Me" setzt ein, und Tembe verkörpert das umhergebeutelte, geschundene, geschlagene Opfer einer brutalen Vergewaltigung. Auch diese wird sie überwinden, wie sie alles mit Stolz und Würde überwindet.

Sie wird schließlich doch noch zur Tänzerin, in diesem langen Kleid, mit dem sie sich über die Bühne bewegt, als wäre es die allergrößte Selbstverständlichkeit, egal, wie groß die Mühsal ist. Dazu erklingt, herzzerreißend, das "Ave Maria", Gounod, in einer Version von Bobby McFerrin, nur die Stimme als Begleitung und eine Geige für die Melodie. Ein Ave Maria für Maria Tembe, die, nachdem es verklungen ist, mit Hilfe des Kleides alle möglichen Arten weiblicher Verschleierung vorführt. Dann versinkt der Abend im Dunkel auf der Bühne. Für einen längeren Moment teilt sich Maria Tembe zuvor schriftlich mit. Dann kann man in einer Projektion lesen, dass sie 1988 geboren ist, dass in Afrika in 28 Ländern immer noch die Verstümmelung weiblicher Genitalien betrieben wird, dass die Entfernung der Klitoris wie eine Amputation ist, irreversibel. Dass sie selbst keine Beine hat, dazu sagt sie nichts. Muss sie nicht, man erlebt es ja.

Das "Solo für Maria" ist der zweite Teil eines Doppelabends bei "Spielart". Im ersten Teil holen Laila Soliman und Ruud Gielens, Theatermacher aus Kairo und Antwerpen, sechs Frauen aus Eritrea und dem Sudan auf die Bühne. In "My Body Belongs to Me" erzählen sie, was sie selbst am eigenen Leib erfahren mussten oder wovon sie Zeuginnen wurden. Sie gehören zu einer selbst organisierten Gruppe, die sich gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien einsetzt. Sie erzählen ihre Geschichten, die unfassbar sind. Ein uralter Brauch, von dem niemand mehr sagen kann, weshalb es ihn gibt, der von vielen abgelehnt wird, wird einfach fortgesetzt, weil man es immer so tat. Eltern warnen ihre Töchter. Sollte sie jemand mit Henna anmalen wollen, dann sollen sie fliehen. Die Bemalung ist eine Vorbereitung des grausamen Rituales, an dem kleine Mädchen sterben, weil die Hebamme pfuscht. Aber was heißt da schon Pfusch? Es ist ein Verbrechen. Die Frauen erzählen von Ehemännern, die ihre Not verstehen, erzählen von Tanten und Großmüttern, die ihren Enkelinnen und Nichten auflauern, wenn die Eltern gerade verreist sind. Die sechs Frauen flohen nach Deutschland. Manchen wurde nach einer Entbindung in der Heimat die Scheide wieder zugenäht. Gefragt wurden sie nicht.

So krass die Geschichten sind, die Form stimmt nicht. Der Abend ist natürlich legitimiert durch die Wahrheit dieser sechs Frauen, aber diese erzählen mit großer Freundlichkeit, zunächst auch einfach Geschichten über das Kindsein. Eine wollte immer mit den Jungs und Fußball spielen, ihren Vater freute dies. Vieles klingt unbeschwert, heiter, dann kommt der Schatten, aber der Erzählduktus ändert sich nicht. Dazwischen singen die sechs Frauen Lieder aus ihrer Heimat. Auch dies freundlich, ohne große Form oder größere Idee der Präsentation. Natürlich, was ist hier in der Wahrnehmung ein europäischer Blick, wenn man vom Erzählgestus allein so irritiert ist? Das fragt man sich, und dann kommt Maria Tembe.

Zwei Meisterwerke an einem Wochenende. Eines ist Tembe, das andere "Orest in Mossul" von Milo Rau. Viel wurde darüber geschrieben, gerade in dieser Zeitung, ein ganzes Magazin voll. Vielleicht ist diese Produktion Milo Raus beste, auf jeden Fall ist sie ein Theaterabend, der so perfekt gebaut und umgesetzt ist, dass man sprachlos ist. Er ist eine doppelte Spiegelung. Zum einen wird die Geschichte der Orestie, der Zerstörung von Troja und der ganzen Morde erzählt, aber in Mossul, der zerstörten Stadt. Und dann spiegelt sich die Form, das Geschehen auf der Bühne und das Video aus Mossul.

© SZ vom 05.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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