"The Matrix Resurrections" im Kino:Pillensüchtig

Lesezeit: 4 min

Keanu Reeves und Carrie-Anne Moss in "Matrix Resurrections". (Foto: AP)

Und noch mal von vorn: In "Matrix Resurrections" entfesselt Lana Wachowski wieder den Kampf Mensch gegen Maschine. Funktioniert das ein viertes Mal?

Von Tobias Kniebe

Ja, zugegeben, heute hört sich das alles etwas merkwürdig an. Aber es gab einmal eine Zeit, so um die Jahrtausendwende herum, da galt die Idee der "Matrix" als irgendwie subversiv und bewusstseinserweiternd, ja sogar revolutionär. Da entdeckte ein junger Hacker namens Neo, dass die Welt, die aussah wie unsere und die er (wie wir alle) für die Wirklichkeit hielt, in Wahrheit nur eine Computersimulation war.

Man musste im Grunde nur eine besondere rote Pille schlucken, um hinter diese sogenannte Matrix zu schauen und Schreckliches zu entdecken: Die Menschen waren von den Maschinen längst versklavt, sie dämmerten gefangen in einer Art Sarg mit Nährflüssigkeit vor sich hin und produzierten Bioenergie, und das sogenannte Leben, das sie zu leben glaubten, wurde von einer künstlichen Intelligenz nur deshalb in ihre Köpfe hineinprojiziert, damit der Fluss ihrer Energie nicht versiegte.

Ob man wirklich die rote Pille schlucken wollte oder doch lieber die blaue, die einen weiterschlafen ließ, musste man sich gut überlegen. Das machten die beiden Schöpfer der Idee, die damals noch Larry and Andy Wachowski hießen, in ihrem ersten "Matrix"-Film klar. Denn hinter diesen großen Erkenntnisschritt, der ein Moment des Schocks und des Staunens sein sollte, gab es kein Zurück. Der Rest war dann einfach ein endloser Krieg zwischen ein paar befreiten Menschen und sehr vielen schlauen Maschinen, wie die beiden "Matrix"-Fortsetzungen dann auch zeigten.

Neo erinnert sich an nichts mehr, glaubt aber, er könne fliegen. Nicht ganz ungefährlich

Aber kann man eine derart erschütternde Erkenntnis, kaum sind achtzehn Jahre seit dem letzten "Matrix"-Film vergangen, einfach wieder vergessen? Das ist die Frage, die sich aktuell in "Matrix Resurrections" stellt. Die Antwort lautet: offenbar ja. Denn der Hacker Neo heißt nun wieder bürgerlich Thomas Anderson und lebt ein ganz normales (ja, man muss sagen: langweiliges) Leben. Er arbeitet als Game Designer, und von einer eventuellen Macht irgendwelcher Maschinen weiß er nichts. Dafür schluckt er, damit sein zäher Alltag erträglicher wird, jeden Morgen eine blaue Pille.

Kann das derselbe Mann sein, der in den vorangegangenen Filmen bereits erwacht ist, sich spektakulär aus seinem Biosarg befreit hat und mit seiner ebenfalls befreiten Partnerin Trinity (Carrie-Anne Moss) den Kampf gegen die Maschinen aufgenommen hat? Der die große Wirklichkeitssimulation so gut verstanden hatte, dass er ihre Parameter verändern konnte, den Raum verbiegen, die Zeit verlangsamen und die Schwerkraft aufheben, was zu spektakulären Kampfszenen im Simulakrum führte? Na klar, er ist es. Er sieht ein wenig älter aus, trägt lange Haare, Bart und Wollmütze, aber er wird immer noch von Keanu Reeves gespielt.

Hat vergessen, dass die Menschen von Maschinen versklavt werden: Keanu Reeves in "Matrix Resurrections". (Foto: AP/Warner)

Es stellt sich also heraus, dass er sich seine ganzen bisherigen "Matrix"-Abenteuer nur eingebildet hat. Oder anders gesagt, er hat eine Trilogie von Computerspielen geschaffen, die exakt dasselbe Aussehen und dieselbe Handlung haben wie die drei existierenden "Matrix"-Filme, weshalb viele alte Szenen auch nostalgisch wieder eingeblendet werden können. Er hat nur seine eigene Schöpfung ein wenig zu ernst genommen.

Irgendwann konnte er Spiel und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten, hat sogar eine Mutter mit zwei Kindern aus dem Coffeeshop, in die er sich von ferne verliebt hatte, zu seiner Partnerin Trinity in "Matrix" gemacht. Weil so viel Fantasie einerseits profitabel ist (seine Firma macht Millionen mit ihm), andererseits aber auch gefährlich (er starb fast, weil er dachte, fliegen zu können), ist er jetzt in Behandlung bei einem Analytiker, gespielt von Neil Patrick Harris.

Was, wenn das Leben wirklich banal ist und es gar keine Matrix gibt?

Das wäre im Kino nun wirklich mal ein revolutionärer Gedanke - dass hinter dem sogenannten Leben in seiner ganze Banalität nichts weiter steckt. Dass die heiße Mom aus dem Coffeeshop tatsächlich so gar nicht für ein Abenteuer zu haben ist. Und dass nach vielen quälenden Morgen mit vielen blauen Pillen nichts weiter kommt als das unspektakuläre und definitive Ende, das jeden von uns erwartet. Sehr verführerisch daran klingt, dass es keine geheimen Erkenntnisse mehr gäbe. In einer Zeit, in der jeder Impfgegner meint, irgendeinen matrixartigen Verblendungszusammenhang durchschaut zu haben - wie toll wäre bitte das denn?

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Aber nein, an diese Art von Erlösung zweiter Ordnung glauben die Wachowskis nicht. Immerhin haben sie in der Zwischenzeit festgestellt, dass sie selbst in einer Art Simulation gelebt haben und in Wirklichkeit Frauen sind, sie heißen jetzt Lilly und Lana. Als die Frage konkret wurde, ob man in Sachen "Matrix" nicht noch mal was machen kann, wollte Lilly nicht mehr, Lana aber schon. Sie führt nun allein Regie, aber Stil und Schauwerte sind dieselben wie immer. Und natürlich, das macht schon die erste Szene klar, gibt es die Matrix und die Maschinen noch. Sie haben es nur eben geschafft, Neos Erlebnisse in eine neue Lüge einzubauen und ihn teuflisch einzulullen.

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Es geht also, anders gesagt, alles noch mal von vorn los. Es gibt wieder eine rote Pille. Sie muss wieder geschluckt werden. Und so fort. Das ist einerseits beruhigend, weil auf manche Dinge eben noch Verlass ist. Andererseits ist es aber auch enttäuschend, weil wie bei allen roten Pillen im Leben die Wirkung nie mehr so doll ist wie beim ersten Mal. Mit der ewigen Fortsetzung halten die Filmemacher die Fans in einer gewissen Abhängigkeit. Bei der Produktion wirklich neuer Drogen dagegen schwächeln sie wie nie zuvor.

Eine der Folgen ist, dass das Kino mit immer mehr Pillen fertig werden muss, die es früher schon mal geschluckt hat. Und, noch erschreckender: dass die Erkenntnis heraufdämmert, dass die Zahl der filmgeschichtlich verfügbaren Wirkstoffe endlich sein könnte. Was nur einen Kinosaal weiter zum Beispiel auch dazu führt, dass da nicht nur ein Spider-Man herumspringt, sondern drei. Im Moment funktioniert das noch bei den Zuschauern, sogar sensationell. Man kann das, wie jedes Pillenproblem, aber nicht ewig eskalieren. Man kann die Zahl der Spidermänner noch von drei auf sechs erhöhen oder von sechs auf zwölf, aber die Wirkung nimmt ab. Und irgendwann ... aber hach, geht doch. Läuft doch noch alles, im Moment.

The Matrix Resurrections , USA 2021 - Regie: Lana Wachowski. Buch: Wachowski, Aleksandar Hemon, David Mitchell, Kamera: John Toll. Musik: Johnny Klimek, Tom Tykwer. Mit Keanu Reeves, Carrie-Anne Moss, Jessica Henwick, Neil Patrick Harris. Warner, 148 Minuten. Kinostart: 23. 12. 2021.

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