"The Farewell" im Kino:Basierend auf einer wahren Lüge

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Am liebsten wäre man Teil dieser Großfamilie. (Foto: Casi Moss)
  • Lulu Wangs "The Farewell" stellt Fragen, auf die westliche und fernöstliche Kulturen unterschiedliche Antworten haben: Gibt es gute Lügen? Oder zumindest mehrere Versionen der Wahrheit?
  • Eines ist jedenfalls ziemlich sicher: Es ist einer der schönsten Filme des Jahres geworden.

Von Martina Knoben

In einer wunderbaren Szene des Films zeigt die Oma (Zhao Shuzhen) ihrer Enkelin Billi (Awkwafina) Tai-Chi-Übungen. "Ha! Ha!", macht die alte Frau und stößt ihre Handflächen energisch von sich, als würde sie eine imaginäre Wand wegschieben. "Ha, ha" macht auch Billi, aber es wirkt lasch und unentschlossen.

"Es kommt nicht darauf an, was du machst, sondern wie du es machst", sagt Nai Nai (so heißt die Oma väterlicherseits in China) später zu Billi. Das dürfte auch das Credo der Regisseurin und Drehbuchautorin Lulu Wang sein, die in "The Farewell" eine Geschichte erzählt, die sich leicht als Rührstück, als Familiendrama oder Culture-Clash-Komödie hätte inszenieren lassen. Das alles ist "The Farewell" glücklicherweise nicht. Wang findet einen eigenen Weg, melancholisch und lustig, künstlich wie der Schein von Leuchtstoffröhren und doch ganz wahr. "The Farewell" ist einer der frischesten, schönsten Filme dieses Kinojahres. Dass er sich nicht festlegen lässt, passt zur Migrationsgeschichte. Wang ist gebürtige Chinesin und kam als Kind mit ihren Eltern in die USA. "The Farewell" erzählt vom Aufeinandertreffen dieser beiden Kulturen, was aber keinen "Clash" hervorbringt, sondern das sympathische Kuddelmuddel einer chinesisch-amerikanischen Großfamilie.

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Aus der SZ-Redaktion

Der Film beginnt in New York. Mit ihrem Vater (Tzi Ma) und ihrer Mutter (Diana Lin) war Billie als Kind aus China emigriert - unschwer lässt sich in ihr ein Alter Ego der Regisseurin erkennen. Billi will Schriftstellerin werden, hat gerade erfahren, dass aus dem ersehnten Stipendium nichts wird. Trost holt sie sich beim Telefonieren mit ihrer Nai Nai, die noch in Changchun lebt. Ob sie einen Hut trage, will die Oma wissen, und Billi bejaht, trägt aber keinen. Vom abgelehnten Stipendium und ihren Geldsorgen erzählt Billi nichts. Auch die Oma sagt nicht die ganze Wahrheit, verschweigt, dass sie gerade im Krankenhaus ist und auf eine Diagnose wartet.

Gibt es gute Lügen? Chinesische Familien sehen das womöglich anders als amerikanische

"Basierend auf einer wahren Lüge" ist am Anfang zu lesen. Tatsächlich hat Lulu Wang die Geschichte so ähnlich erlebt. Als bei ihrer Oma in China eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wurde, verheimlichte ihr die Familie die Diagnose. Alle hätten die Oma mit Fröhlichkeit überschüttet und getan, als ob nichts wäre, hat Wang erklärt. Aber: Gibt es gute Lügen? Ist es nicht das Wichtigste in einer Beziehung, einander die Wahrheit zu sagen?

Da treffen chinesische Überzeugungen auf westliches Denken. Dass es mehrere Versionen der Wahrheit gibt, ja sogar mehrere Versionen des eigenen Selbst, thematisiert Wang unwiderstehlich charmant. Filme über die Asian Americans, Amerikaner mit asiatischer Abstammung, sind immer noch rar. "The Farewell" hat vermutlich einen Nerv getroffen, dafür spricht der überraschende Erfolg des Films in den USA.

Nai Nai hat Krebs, die Ärzte geben ihr noch wenige Monate. Sie sagen ihr das aber nicht, auch die Familie schweigt, erfindet einen Vorwand, die Todkranke noch einmal zu sehen. Billis Cousin soll mit seiner Freundin verheiratet werden. Die kennt er zwar erst seit drei Monaten, aber der Familienfrieden ist zu wichtig, um daran zu scheitern. Aus Japan und aus Amerika reist also die Verwandtschaft zur Oma nach China, zum angeblichen Freudenfest. Nai Nai wundert sich nur immer wieder: warum Billi so blass ist und warum ihr Sohn, Billis Vater, bei der Hochzeit weint.

Awkwafina ist eine bekannte Rapperin. Als Billi wurde sie für einen Golden Globe nominiert

Dass der Film trotz dieses Plots nicht kitschig ist, dafür sorgt - neben dem hervorragenden Drehbuch - ein Ensemble toller Darsteller. Awkwafina wurde als Rapperin bekannt; wer einen Eindruck von ihrem komischen Talent und ihrem feministischen Furor bekommen will, kann sich ihr Video "My Vag" (über ihre Vagina) anschauen. Sie spielte in "Crazy Rich Asians" von Jon Chu mit und in "Ocean's 8". Billi ist ihre erste Hauptrolle, für die sie nun zu Recht für einen Golden Globe nominiert ist.

Ihr Gegenüber Zhao Shuzhen ist in China bekannt. Als todkranke Nai Nai, die sich mit Feuereifer in Hochzeitsvorbereitungen stürzt, strahlt sie eine umwerfende Wärme und Souveränität aus. Zu den kulturellen Unterschieden, die im Film nicht verhandelt, sondern in alltäglichen Situationen beobachtet werden, gehört das Bild des Alters. Wenn Nai Nai mit Billi Tai Chi übt, bewegt sie sich wie eine Tänzerin und verkörpert damit eine selbstverständliche Schönheit, einen selbstverständlichen Wert des Alters, der dem Westen eher fremd ist. Wer will, kann in Nai Nai auch ein Bild des ursprünglichen China sehen. Ein Bild, das mit einem Land versöhnen kann, das als Big-Brother-Staat und Wirtschaftsmacht vor allem gefürchtet wird.

Als Billi nach China reist, muss sie ihr Geburtsland wie ein fremdes Land entdecken. Sie staunt über Hochhäuser und Neubaugebiete, denen auch das frühere Haus der Familie weichen musste. "The Farewell" ist in mehrfacher Hinsicht ein Film über Abschiede. Jeder in der Familie hat ein Geheimnis, jeder lügt die anderen an. Familie, das ist überall auf der Welt ein faszinierendes Ineinander und Durcheinander von Liebe, Unsicherheit, Bedauern, Geborgenheit und Konflikten.

Giftige Leuchtstoffröhren, warme Großfamilie

"In China gibt es die romantische Idee von gedimmtem Licht nicht. Vielmehr mögen es die Chinesen gern so hell wie möglich, was für westliche Augen oft zu grell ist", schreibt Wang. Deshalb sind in ihrem Film immer wieder Leuchtstoffröhren mit giftigen Farben und hell ausgeleuchtete Szenen zu sehen. "Was mir daran gefällt, ist, dass es ziemlich kalt wirkt, während die Beziehungen innerhalb der Familie eigentlich sehr warm und intim sind."

Nachdem Billi die Lüge gegenüber ihrer Großmutter zuerst vehement abgelehnt hatte, fügt sie sich immer mehr der chinesischen Sicht der Dinge. Wo der Westen das Individuum und sein Recht auf Selbstbestimmung über alles stellt, um den Preis der Einsamkeit, geht es in China zuallererst um das Kollektiv. Man kann das befremdlich finden. Wenn aber alle zum Essen zusammenfinden, vielsagend lügen und schweigen an einem runden Tisch, dann möchte man sich auch als Zuschauer am liebsten dazusetzen, in diese schöne, verwirrende Wärme einer Großfamilie.

The Farewell, USA 2019 - Regie, Buch: Lulu Wang. Kamera: Anna Franquesa Solano. Schnitt: Michael Taylor, Matthew Friedman. Musik: Alex Weston. Mit: Zhao Shuzhen, Awkwafina, Tzi Ma, Diana Lin, Lu Hong. Verleih: DCM, 100 Minuten.

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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