Theater:Onkel Wanja, Putin und die Frauen

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Theater als Metapher: Am Hamburger Thalia-Theater haben zwei Stücke Premiere, die vom Leben im Zarenreich und zur Umbruchzeit der Perestroika erzählen.

Von Till Briegleb

Am Hamburger Thalia-Theater war "russisches" Premierenwochenende. Zwei Stücke, die vom Leben im Zarenreich und zur Umbruchzeit der Perestroika erzählen, standen zufällig hintereinander auf dem Spielplan, und es war unausweichlich, dass jeder Mensch in den Zuschauerräumen den Inhalt vor dem Hintergrund von Putins Angriffskrieg betrachtete. Deutet Tschechows "Onkel Wanja", das auf einem Gut in Russland spielt und in dem Charkow vorkommt, etwas von der aggressiven Geschichte des neuen Zaren aus? Oder macht die Adaption von Nino Haratischwilis Roman "Das mangelnde Licht" über das Leben in Georgiens Hauptstadt Tiflis etwa verständlich, warum Russlands Führer immer wieder beschließen, ihre Nachbarn zu überfallen?

Zunächst ist die Koinzidenz natürlich Anlass für Solidaritätskundgebungen. Zu Beginn der Wanja-Inszenierung von Hakan Savaş Mican in der kleinen Spielstätte Gaußstraße singt Daniel Kahn, der das Stück als Musiker begleitet, ein jüdisches Lied mit dem Refrain: "Dem russischen Kaiser dienen ist nicht gut, denn er badet in unserem Blut". Und am Ende der fast fünfstündigen Inszenierung von Jette Steckel über die Jugend- und Erwachsenen-Jahre im Dauerkrisenstaat Georgien entrollen die Darsteller ein Transparent "Für Frieden und Freiheit". Dieser gerade alle Menschen bewegende Wunsch nach einer Geste der Unterstützung für das ukrainische Volk hat sich aber in beiden Fällen nicht dahin verlängert, die Inszenierungen selbst zu verändern.

Im Fall von Onkel Wanja wäre das auch ein wenig gequält, denn dieses Stück handelt von Trägheit und stummen Aggressionen. Wer hier schießt, der tut es aus rasender Verzweiflung über eine unerträgliche Kränkung. Oder sind die Motive für die beiden Schüsse, die Onkel Wanja auf seinen egoistischen Schwager, den Professor Serebrjakow, abgibt, vielleicht doch ähnlich den emotionalen Schmerzen, die Putin zu wahnwitzigen Gewaltlösungen greifen lässt. Putins jahrelang aufgebautes Narrativ einer nationalen Kränkung, die wie bei allen Diktatoren mehr eine narzisstische ist, beschreiben viele Kommentatoren als Reflex auf mangelnde Anerkennung durch den Westen.

Obwohl die Inszenierung von Hakan Savaş Mican sich ansonsten sehr darum bemüht, ein typisch tschechowscher Verzweiflungsabend zu sein, wo in gewittriger Sommerstimmung unglücklich geliebt und konsequenzlos gelitten wird, lassen sich durch die Putinlinse viele Verhaltensweisen wiederfinden, die russische Gewaltpolitik vielleicht interpretieren helfen. Die große Diskrepanz zwischen einem männlich übertriebenen Selbstbild und einer eher kümmerlichen Existenz, die Serebrjakow (Oliver Mallison) in diesem Stück verkörpert, lässt sich als Metapher für ein Land verwenden, das politisch von übertriebenem männlichen Nationalstolz geleitet wird, während Lebensumstände wie Infrastruktur in weiten Bereichen ruinös sind.

Auch der abschließende Rat der desillusionierten Nichte Sonja (Meryem Öz) an den unglücklichen Wanja (Stefan Stern), "lerne das Leben zu ertragen", mag eine Stimmung im desillusionierten Russland beschreiben, wo das verratene Volk seinen Autokraten so lange erträgt, bis dieser sie an den Rand eines Weltkriegs führt. Und so lässt sich in diesem feinen Gesellschaftsbild, das Tschechow vor 125 Jahren zeichnete, in beinahe jeder Figur eine Referenz erahnen, die etwas über Resignation und latente Gewalt erzählt, durch die konstruktive Hoffnungen in destruktive Lösungen umschlagen.

Die Geschichte besitzt auch die stark optimistische Botschaft, dass der Kampf um Selbstbestimmung erfolgreich sein kann

Der Arzt, Naturschützer und Vegetarier Astrow (Felix Knopp), der hier über den Klimawandel und die Abholzung der Wälder spricht, ersäuft die Frustration über die mangelnde Veränderungsbereitschaft und die Gier seiner Zeit im Wodka. Und die blonde Trophäenfrau des Professors (Anna Blomeier) durchschaut zwar alle maskulinen Manöver und Schwächen, ergibt sich aber trotzdem ihrem Schicksal. All das muss man nicht krass aktualisieren, um generell gültige Strukturen von Egoismus, Selbstbetrug und Wutlösungen zu erkennen, die auch in Putins Politik wirken.

Bei der Theatralisierung von Haratischwilis neuem Roman "Das mangelnde Licht", der zeitgleich zur Inszenierung erschien, sind die Parallelen dagegen historisch deutlich klarer formuliert. Das ständige Ringen mit Russland um die georgische Selbstbestimmung, das vom Ende des Sowjetreichs bis in die Ära Jelzins erzählt wird, greift unmittelbar in die Biografien der vier Protagonistinnen ein. Freundinnen seit Kindertagen erleben sie ihre Sinn- und Glückssuche in einer Umgebung aus krimineller Gewalt, politischen Umbrüchen mit Revolutionscharakter sowie Kriegen und Massakern, die alle im Bezug stehen zum traditionellen Hegemonialstreben Moskaus.

Auch die Auflösung des Sowjetstaates durch Gorbatschow, der dem Osten Westeuropas eine neue Ära von Wohlstand und demokratischer Selbstbestimmung brachte, hatte im Kaukasus enorme Gewalt zur Folge. Etwa in dem Krieg der abchasischen Separatisten gegen den Staat Georgien, der den Hintergrund liefert für viele emotionale Konflikte der vier Freundinnen Qeto (Lisa Hagmeister), Dina (Maja Schöne), Nene (Rosa Thormeyer), Irine (Fritzi Haberlandt) und ihren Familien. Machismo, verletzte Ehrgefühle, nationalistische Politik und Korruption bilden die übermächtigen Widerstände, gegen die das Private und Liebende verteidigt werden muss. Und die den Frauen immer wieder existentielle Entscheidungen aufzwingen.

Zwischen drehbaren Wandelementen mit buntem Pixelbedruck, die im ständigen Fluss der Drehbühne zu immer neuen Räumen umgestaltet werden (Bühne von Florian Lösche) kapituliert Regisseurin Jette Steckel leider ein wenig vor der Fülle des Stoffes und erzählt die Geschichte ausführlich statt exemplarisch. Ständige Wiederholungen ähnlicher Konflikte, die zudem nie ihr Milieu verlassen, produzieren deutlich zu viele Redundanzen. Die dritte Adaption von Haratischwilis Georgien-Romanen durch Jette Steckel am Thalia nach "Das achte Leben (Für Brilka)" und "Die Katze und der General" ist zudem formal wie inhaltlich sehr ähnlich konzipiert.

Und so ist es hier tatsächlich die aktuelle Kriegspolitik Putins, die das fragende Interesse beim Zuschauen mehr auf die historischen Zusammenhänge lenkt. Die geopolitische Arroganz russischer Eliten, unbedingt ein Großreich mit Vasallenstaaten sein zu wollen, wo die nationalistischen Schlachtgesänge am Ende aber nur der Selbstbereicherung und der politischen Eitelkeit weniger dienen, wirkt wie ein historischer Refrain, der ständig wiederholt werden muss. Unterbrochen von kurzen Phasen starker Hoffnungen auf Wandel, erzählen die zwei Jahrzehnte Politik aus georgischer Perspektive, die in dieser Inszenierung ausgebreitet werden, von einer gewissen Zwangsläufigkeit von Machtzuwachs, der im Krieg endet.

Putins geduldiger Umbau des Staates von einer verletzlichen Demokratie in eine verletzende Diktatur scheint im Lichte dieser "russischen" Inszenierungen also wie ein strategisches Programm von Herrschern in Moskau, egal welcher politischen Couleur. Aber die Geschichte der vier Frauen wie des Landes Georgien besitzt auch die stark optimistische Botschaft, dass der Kampf um Selbstbestimmung erfolgreich sein kann. Drei von vier Schulfreundinnen kommen an in einem Leben, das nur noch kleine statt große Sorgen kennt. Zum Beispiel das mangelnde Licht in einem Hinterhofatelier.

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