Kriegstagebuch von Astrid Lindgren:"Schade, dass niemand Hitler erschießt"

Lesezeit: 5 min

Astrid Lindgren 1972 mit den beiden Hauptdarstellern ihrer Buch-Verfilmung "Michel aus Lönneberga". (Foto: picture alliance / dpa)

1939 begann die damals noch unbekannte Astrid Lindgren über den schwedischen Alltag im Zweiten Weltkrieg zu schreiben. Nun sind ihre Aufzeichnungen als Buch auf Deutsch erschienen.

Von Silke Bigalke

Mitten in Stockholm, im Vasapark, gibt es ein Eckchen, das nach Astrid Lindgren benannt ist, es heißt "Astrid Lindgrens Terrasse". Die schwedische Autorin hat viele Jahrzehnte ganz in der Nähe gewohnt und den Park oft besucht. Sie saß dort auch wenige Stunden, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, gemeinsam mit einer Freundin.

Die Kinder spielten und tobten um sie herum, "und wir schimpften ganz gemütlich auf Hitler und waren uns einig, dass es wohl keinen Krieg geben würde - und dann das!". So schreibt es Astrid Lindgren einen Tag später auf, denn einen Tag später, am 1. September 1939, hat Deutschland Polen angegriffen, und sie beginnt mit ihrem Kriegstagebuch.

Drei Tage später notiert Lindgren bereits, dass es vermutlich Hitlers "innerster Wunsch" sei, "die ganze Welt zu beherrschen". Und nur einen Monat später: "Schade, dass niemand Hitler erschießt."

Beginn des Zweiten Weltkriegs
:"Wir wussten, was auf uns zukommt"

Lieselotte Bach ist "Arbeitsmaid", als der Zweite Weltkrieg beginnt. Sie und ihre Kameradinnen glauben der Nazi-Propaganda - und brechen bei der Nachricht vom Angriff auf Polen trotzdem in Tränen aus. Der Krieg sollte Bach drastisch treffen.

Von Oliver Das Gupta

Bis Ende 1945 füllt die Schwedin so 17 Kladden mit ausgeschnitten Zeitungsartikeln und ihren eigenen, manchmal flapsigen ("Der kleine süße Hitler ist nun einige Zeit wie ein geölter Blitz von einem Land ins andere gerast."), manchmal erschütterten Kommentaren ("Die Welt muss am Ende so voller Hass sein, dass wir allesamt daran ersticken.")

Astrid Lindgren hat sie nicht für ein Publikum geschrieben, sondern für sich selbst. Sie sind privat, zeigen Sorgen und Ängste der damals Anfang Dreißigjährigen, aber auch ihr großes politisches Interesse und den besonderen Blick von einer der wenigen friedlichen Inseln Europas im Krieg: Schweden konnte sich bis zum Schluss heraushalten und war doch nicht unbeteiligt.

Als Astrid Lindgren ihre Chronik beginnt, ist sie noch keine Schriftstellerin, sondern Sekretärin und Hausfrau. Sie hat zwei Kinder, Karin und Lars, wobei ihr Ehemann Sture nur der Vater der jüngeren Karin ist. Mit Lars wurde sie schwanger, als sie 18 Jahre alt war und Volontärin bei der Lokalzeitung in Vimmerby, Småland.

Es ist der nächst größere Ort zum kleinen Weiler Näs, in dem ihr Elternhaus stand, und manchmal sehnt sie sich zurück, wenn sie im Stockholmer Vasapark sitzt. Vater ihres ersten Kindes war der wesentlich ältere Chefredakteur, und Astrid Lindgren entschied sich damals, ihn und Småland zu verlassen.

Nun lebt sie ein bürgerliches Leben in der Stadt, schreibt viel über Essensvorräte, Rationierungen und gehamsterten Kaffee, wobei selten echter Mangel herrscht. Zu jedem Fest listet sie penibel die üppigen Speisen auf, die sie auf den Tisch bringt, macht eine Inventur aller Geschenke, die die Kinder erhalten haben, als müsse sie gute Erinnerungen für schlechte Zeiten konservieren.

Genauso akribisch sammelt Astrid Lindgren alles, was sie über die Bewegungen der Armeen, über Frontverläufe und Kämpfe herausfinden kann. "Jeden Abend danke ich beim Schlafgehen meinem himmlischen Papa, dass man in diesem Land immer noch ruhig schlafen darf", schreibt sie im September 1940.

Dabei sind ihre Gefühle zwiespältig. "Neutral bis in den Tod" wollte die Regierung bleiben, schreibt Astrid Lindgren, und anfangs ist das überhaupt nicht nach ihrem Geschmack. Vor allem mit den Finnen leidet sie während des Winterkrieges 1939 und möchte, dass Schweden ihnen gegen die Sowjetunion zu Hilfe kommt, obwohl sie weiß, dass ihr Land dann wahrscheinlich selbst zum Kriegsschauplatz würde. "Wir schicken Blutkonserven, Pferdedecken, Kleidung und alles Mögliche. Wir schicken Hals- und Knieschützer und Gott weiß was noch alles. Trotzdem - tun wir genug?"

Die Regierung greift nicht ein, erhält so den Frieden im Land und ein nagend schlechtes Gewissen der Schweden, weil es ihnen gut geht, während die Finnen im Osten von den Russen und die Dänen und Norweger im Westen von den Deutschen niedergemacht werden.

Als sich Deutschland gegen die Sowjetunion wendet, sitzt Schweden zwischen den beiden Großmächten, die Lindgren im Sommer 1941 als "zwei Dinosaurier, die miteinander kämpfen" beschreibt, wobei sie den bolschewistischen Dinosaurier mehr fürchtet als den nationalsozialistischen.

Obwohl Astrid Lindgren Deutschland eine "bösartige Bestie" nennt, die bereits über die Nachbarländer Schwedens hergefallen ist, und obwohl sie längst von Konzentrationslagern in Deutschland weiß, bringt sie es nicht übers Herz, den Deutschen eine Niederlage zu wünschen. Denn ein geschwächtes Deutschland bedeutet eine größere Gefahr durch die Russen.

"Und dann, glaube ich, sage ich lieber den Rest meines Lebens ,Heil Hitler', als den Rest meines Lebens die Russen bei uns zu haben", hat sie schon 1940 geschrieben. Vermutlich sahen es viele Schweden damals ähnlich.

Durch Briefe aus besetzten Ländern erkennt sie schon bald, was Schweden erspart blieb

Über die Frage, wann die Schweden wie viel über die Verbrechen der Nazis wussten, wird bis heute diskutiert. Astrid Lindgren weiß mehr als die meisten, denn sie arbeitet seit Herbst 1940 für die Briefzensur des schwedischen Geheimdienstes und liest Tausende Briefe aus den besetzten Ländern.

"Schmuddeljob", nennt sie das und geht nicht näher darauf ein, schreibt jedoch einige Briefe für ihre Kriegschronik ab, was streng verboten war. Im März 1941 findet sie einen "sehr traurigen Brief von einem Juden", der in Schweden lebt und die Deportation anderer Juden nach Polen beschreibt. "Hitler beabsichtigt offenbar, ganz Polen in ein einziges Ghetto zu verwandeln, in dem die armen Juden an Hunger und Dreck sterben", notiert sie.

Durch die Briefe erkennt Lindgren schnell, was Schweden erspart blieb. Der Friede sei "eine reine, unverdiente, und unerhörte Gnade", die wohl fast alle Schweden verspürten, schreibt sie Weihnachten 1940 - eine Dankbarkeit, die sich jedes Kriegsweihnachten wiederholt. In Lindgrens Tagebuch vermischen sich die schrecklichen Berichte aus den besetzten Ländern mit dem friedlichen schwedischen Alltag, und dem Staunen darüber.

Wenn Lindgren Weihnachten 1941 trocken (und in Klammern) bemerkt, dass sie jetzt mit nur noch zehn Kerzen pro Kind für den Tannenbaum auskommen müssen, unterstreicht sie damit, wie absurd der eigene Wohlstand ihr in diesen Zeiten zuweilen erscheint.

Als die Lindgrens in eine neue, schönere Wohnung ziehen, freut sie sich über die neuen Möbel: "Es ist richtig gemütlich geworden; ich will nicht, dass dies einmal bombardiert wird." Sie schreibt von sommerlichen Radtouren ("Oh, wie schön ist Småland!") und über "Fleischreste und Gedärme", die nach einer Explosion auf einem schwedischen Zerstörer am Ufer des Hårsfjärden in den Bäumen hingen.

Zweiter Weltkrieg
:Der Krieg in Farbe - Bilder des Imperial War Museum

Von der Front in Italien bis zu Bombern auf dem Weg nach Deutschland: Auswahl der Farbbilder aus dem Zweiten Weltkrieg, die das Londoner Imperial War Museum veröffentlicht.

Von Oliver Das Gupta

Sie schreibt vom Tanzkurs ihres Sohnes Lars und von gleichaltrigen finnischen Invaliden, die auf einem Bein durch Stockholm hüpften. Sie schreibt von Schweden als Schlaraffenland, von "Völlerei" und von "Gewissensqualen", wenn sie an den Hunger in anderen Ländern denkt.

Aus dem schlechten Gewissen, das dieser Wohlstand verursacht, wächst in Schweden eine Hilfsbereitschaft, die bis heute besteht. Schweden wurde damals zum Flüchtlingsland, und ist es geblieben. Heute suchen Syrer, Eritreer und Afghanen dort Schutz, damals waren es Balten, Norweger, Finnen und Dänen.

Die Nachbarn sind während des Zweiten Weltkriegs gar nicht gut auf Schweden zu sprechen. Die Finnen fühlen sich im Stich gelassen, die Norweger nehmen es Schweden sehr übel, dass es deutschen Soldaten jahrelang die Durchreise gewährt hat. Auch sonst hat Schweden im Krieg eine größere Rolle gespielt, als ihm heute lieb ist.

Es versorgte Deutschland unter anderem mit Eisenerz und mit Kugellagern, bis die Alliierten dies Ende 1944 unterbanden. Und Astrid Lindgren schreibt damals: "Dank des Krieges habe ich einen Monatslohn von 385 Kronen. Sture ist (dank des Krieges) schon praktischer Direktor (...). Uns geht es viel zu gut."

Tränen im Heringssalat

Bis es ihr plötzlich, im Sommer 1944, nicht mehr gut geht. Ihr Mann Sture hat sich in eine andere Frau verliebt. "Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen, und ich bleibe einsam und frierend zurück", doch was genau passiert ist, schreibt Astrid Lindgren nicht. Weihnachten 1944 weint sie in ihren Heringssalat, doch sie schreibt auch, dass es "trotz allem" so vieles gebe, das ihr Dasein ausfülle.

Zu diesem Zeitpunkt hat sie längst Pippi Langstrumpf erfunden, für ihre häufig kranke, wegen des Krieges oft verängstigte Tochter Karin, der die Mutter seit 1941 von diesem unverwundbaren, unbeirrbaren, starken Mädchen erzählt, als Karin mit Lungenentzündung im Bett lag.

1944 schreibt sie die Geschichten auf, 1945 dann erscheinen sie als Buch. Ihr Mann Sture kommt zurück, doch da hat Astrid Lindgren längt erkannt: "Wenn man glücklich sein will, muss es aus dem eigenen Innern kommen und nicht von einem anderen Menschen". Danach lässt die Erkenntnis, dass sie am glücklichsten sei, wenn sie schreibe, nicht mehr lange auf sich warten.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime
:Wen Hitler kurz vor Kriegsende ermorden ließ

Der Zweite Weltkrieg ist fast vorbei, die Rote Armee steht vor Berlin - da ermorden die Nazis noch jene, die aktiv Widerstand geleistet hatten. Eine Auswahl der NS-Gegner, die Hitler mitunter auf direkten Befehl töten ließ.

Porträts von Esther Widmann, Markus C. Schulte von Drach und Oliver Das Gupta

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: