SZ-Serie: Stimmen aus Syrien:"An diesem Tag ist der Schmerz besonders groß"

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Anas al-Shamy auf den Trümmern seines Hauses in Ost-Ghouta. Luftangriffe kosteten hier über 1600 Menschen das Leben. (Foto: privat)

Der Fotojournalist Anas al-Shamy erinnert sich an das muslimische Opferfest Eid al-Adha in Ost-Ghouta, bevor die einstige Rebellenhochburg Ziel massiver Luftangriffe wurde.

Gastbeitrag von Anas al-Shamy

Über Syrien wird viel geschrieben: Kriegsverlauf, Geopolitik, Fluchtursachen. Aber wie sehen die Syrer selbst ihr Land? Wir haben Schriftsteller und Intellektuelle in Syrien gebeten, uns Texte und Gedanken zu schicken, so offen wie möglich, so vorsichtig wie nötig. Der 22-jährige Anas al-Shamy ist Fotojournalist und kommt aus der einstigen Rebellenhochburg Ost-Ghouta. Mitte Februar hatte die Regierung eine Offensive gegen den Ort gestartet, unter anderem mit massiven Luftangriffen, die mehr als 1600 Menschen das Leben kosteten. Zunächst lebten noch etwa 400 000 Menschen in dem belagerten Gebiet. Mitte März entkamen die ersten Zivilisten der Hölle, zu der Ost-Ghouta geworden war. Anas al-Shamy lebt mit seiner elfköpfigen Familie in al-Bab, einem Vorort von Aleppo.

In diesen Tagen feiern Muslime weltweit das Opferfest. Sie gedenken des Propheten Abraham, der im Vertrauen zu Gott bereit war, seinen eigenen Sohn zu opfern. Im letzten Augenblick verhinderte Gott das Opfer, und Abraham opferte stattdessen ein Lamm. Noch vor einem Jahr war ich mit meiner Familie zu dieser Zeit in meiner Heimat, es war trotz der Belagerung eine besonders schöne Zeit in Ghouta. Einige Tage vor Eid al-Adha (dem Opferfest) versammeln sich die Frauen der Familie zum Plätzchenbacken, gemeinsam kneten sie den Teig für Maamoul, ein Grießgebäck mit Zimt und Datteln oder mit Mandeln und Rosenwasser. Meine Mutter hat diese Zeit immer sehr genossen, ihre Freundinnen kamen vorbei, stundenlang erzählten sie sich die neuesten Geschichten. Aus dem Wohnzimmer hörte ich Gelächter, das so laut war, das regelmäßig Babys aus dem Schlaf gerissen wurden. Wenige Stunden später duftete die Wohnung nach Fest. Wir Männer gingen zum Friseur und ließen uns die Haare schneiden. Vom Großvater bis zum Säugling, jeder in der Familie kleidete sich an diesem Tag neu ein. Aber natürlich nicht ohne sich vorher ein ausgiebiges Bad gegönnt zu haben, so sauber wie am Festtag habe ich mich selten gefühlt.

Am nächsten Morgen sind wir in die Moschee gegangen. Dort traf ich Freunde, Nachbarn, Cousins - es war mein Lieblingstag im Jahr. Die Souks waren voller Menschen, Zuhause aßen wir Shakriya, Fleisch in Joghurtsoße, danach gab es Plätzchen, Trockenfrüchte, Säfte. Zwischen den Häusern hingen Girlanden, abends leuchteten bunte Lampen. Ich nahm meine Nichten und Neffen mit zum Pferdereiten - ihre Freude zu sehen war für mich das größte Geschenk. Sie zappelten vor Aufregung und erstarrten in Ehrfurcht, als sie auf dem Pferderücken saßen.

SZ-Serie: Stimmen aus Syrien
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Die Lage im zerbombten Aleppo ist trist. Um Krieg und Trauer zumindest für einen Tag zu entkommen, wagt ein Fotojournalist einen Roadtrip.

Gastbeitrag von Anas al-Shamy

Danach verteilte ich Geldscheine an die Kinder, sie kauften sich damit Süßigkeiten oder suchten sich ein Spielzeug aus. Deshalb waren sie an diesem Tag immer besonders brav. Das Schwierigste am Älterwerden ist wohl, dass ich keine Scheine mehr von Onkel und Tanten zugesteckt bekomme, sondern nun selber verteilen muss. Abends bin ich dann gerne mit Freunden ins Café gegangen, wir haben Wasserpfeife geraucht und Karten gespielt.

"Der neue Ort hat keine Seele."

Doch in diesem Jahr ist alles anders: In al-Bab gibt es kein Drängen auf den Souks, keine bunten Girlanden, es ist ein Tag wie jeder andere. Wir können keine frischen Blumen an die Gräber unserer Verstobenen legen, wir sind zu weit weg. Ständig frage ich mich: Wissen die Menschen im Gefängnis eigentlich, dass gerade Fest ist? Wahrscheinlich nicht. Als ich morgens zum Festgebet in die Moschee gegangen bin, habe ich keine bekannten Gesichter getroffen. Meine Nichten und Neffen sind noch in Ghouta. Ich höre sie nur am Telefon, sie fragen mich wo ich denn so lange bleibe. Dann rufe ich meinen Freund in der Heimat an und bitte ihn, die Kinder abzuholen und sie zum Jahrmarkt zu bringen. Aber sie lachen auf den Fotos nicht. Sie kennen meinen Freund nicht. Sie können nicht verstehen, warum ich nicht da bin.

Meine Mutter hat keine Maamoul gebacken. Sie meinte, wir bekommen sowieso keinen Besuch, und allein zu backen mache ihr keine Freude. Auch das ausgiebige Baden fiel aus, wir haben in der neuen Wohnung nur selten fließend Wasser. Niemand hat neue Kleidung gekauft, denn wer kann sich in diesen Tagen schon was leisten?

Eigentlich wünschen wir uns an diesem Tag immer: "Möge es dir jedes Jahr gut gehen." Doch uns geht es nicht gut. An diesem Tag ist der Schmerz besonders groß. Vertreibung ist ein Verbrechen. Der neue Ort hat keine Seele. Und trotzdem müssen wir hier bleiben. Ich hoffe, dass ich eines Tages wieder gemeinsam mit meiner Familie das Opferfest feiern kann. Das wäre mein größter Wunsch.

Aus dem Arabischen von Dunja Ramadan

© SZ vom 23.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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