Stewart O'Nan: "Ocean State":Schicksal an Resopaltischen

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Lebensatmosphäre der Schnellimbisse: Das sind die Hintergründe von Stewart O'Nans Romanen. (Foto: /imago images/San Rostro)

Von allen amerikanischen Romanciers webt er die Gesellschaftskritik am subtilsten in seine Geschichten: Stewart O'Nan erzählt noch einmal vom Glück und Niedergang der Vorstädte.

Von Nico Bleutge

Als Birdy rüber zum Strand fährt, schiebt sie sich den letzten Kaugummi in den Mund. Während sich der süßliche Geschmack ausbreitet, kommt ihr für einen Moment alles fremd vor. Die riesigen Felsen und der welke Rhododendron links und rechts der Straße, die kaputten Hummerfallen, die ausrangierten Bojen, die rostend in den Vorgärten liegen. Erst als sie oben auf dem Hügel als dunkle Linie das Meer sieht, entspannt sie sich und freut sich auf Myles. Vergisst für eine Weile die Nervosität, den Job im Sandwichladen, die Geheimnistuerei, seine Freundin. Doch die innere Unruhe bleibt. "Keine Wendestelle" heißt es auf einem Schild vor den verriegelten Ferienhäusern. Und man weiß an dieser Stelle schon, dass die Geschichte nicht gut enden wird.

Von jeher hat der US-amerikanische Schriftsteller Stewart O'Nan ein Faible für jene gesellschaftlichen Bereiche, die um die Welt von Pubs und Supermärkten angesiedelt sind. Seine Figuren wohnen oft in Vororten oder Industriezonen und erleben, wie die sozialen Bruchlinien immer tiefer werden und nicht nur ihre Kindheitssphären, sondern ganze Gedächtnisräume zerstören. In seinem Roman "Letzte Nacht" von 2007 etwa zeigte er ein typisches Diner am letzten Tag vor der Schließung und verwandelte es in ein Bild für das, was man gerne den Traum der amerikanischen Arbeiterschicht nennt. Immer wieder verknüpft er in seinen Büchern die erzählten Geschichten mit historischen Untersuchungen. Zugleich verdeutlicht er, wie brüchig und widersprüchlich die Weltwahrnehmung seiner Figuren ist und wie sehr die Erinnerung an sinnlich wahrnehmbaren Details haftet.

Sein neuer Roman spielt wieder in der Gegend um Hartford, Connecticut, in der er selbst lange Zeit gelebt hat. Diesmal genauer gesagt an der Nahtstelle zu Rhode Island, mit den Kleinstädten Westerly und Ashaway, wo die Küste mitsamt ihren Strandhäusern nicht weit ist, aber die Folgen des Bankencrashs besonders deutlich zu sehen sind. Es ist der Herbst 2009, und Carol Oliviera hat mit ihren beiden Kindern draußen bei der alten Schnurfabrik gerade ein heruntergekommenes Haus bezogen. Ihre Tochter Marie ist dreizehn, und so sehr sie auch als Außenseiterin gezeichnet ist, nimmt sie in dem Roman eine wichtige Stellung ein. Der narrative Kern aber ist die Dreiecksgeschichte um Maries ältere Schwester Angel, ihren Freund Myles und eben Birdy. Eine Highschool-Liaison, die, so viel wird schon im ersten Satz des Romans verraten, tödlich endet.

Der Schriftsteller Stewart O'Nan wurde 1961 in Pittsburg, Pennsylvania, geboren. (Foto: Philippe Matsas/Opale)

O'Nan hat seine Erzählung in zwei großen Strängen angelegt, die kapitelweise wechseln. Der eine ist im Präsens gehalten. Hier erlebt man die Kleinstadtwelt aus der Perspektive der weiblichen Figuren. Mal schlüpft man in die Wahrnehmung von Angel, mal in die von Birdy. Oder von Carol, die in der Gegend aufgewachsen ist. Es ist eine Kunst für sich, wie O'Nan die Denkmuster seiner Figuren auffaltet und mithilfe unscheinbarster Details ganze Lebensatmosphären spürbar macht: "Die Muschelbuden und Del's-Lemonade-Stände hatten geschlossen, und am Ende fuhren wir zum Mittagessen in die Stadt zu One Fish Two Fish, einem Schnellimbiss in einem früheren Burger King, wo wir immer gegessen hatten, als wir noch klein waren. Dort gab es noch die ursprünglichen gelborangen Resopaltische, an den Kanten ramponiert und schmutzig, jedes verstreute Salzkorn deutlich zu sehen."

In der Durchdringung von Kindheitserinnerung und Warenästhetik wird offenbar, wie genau es O'Nan versteht, eine Geschichte und ein Gesellschaftsbild zu verbinden. Dazu trägt auch der zweite Erzählstrang bei. Marie erinnert sich aus dem zeitlichen Abstand von mehreren Jahren an die Vorfälle und erzählt vom späteren Prozess gegen ihre Schwester und Myles. Die Distanz verleiht ihren Sätzen eine gewisse Übersicht, zugleich aber ist Marie als Angels Schwester hoch subjektiv, zumal ihre Rückblenden von ihrer aktuellen Lebenssituation geprägt sind. Wie die beiden Erzählstränge zusammenhängen, bleibt lange Zeit offen. Die Widersprüche in den Sichtweisen aber sind für das Buch produktiv. Wo Carol sich etwa als Krankenschwester in einer edlen Seniorenresidenz wahrnimmt, beschreibt ihre Tochter sie als "Hilfspflegerin in einem Altersheim".

Überhaupt liegt der Reiz dieses Romans auch darin, wie sowohl in die skizzierten Szenen als auch in die Selbstwahrnehmung der Figuren das soziale Gefälle eingelagert ist, das ihr Leben bestimmt. Während sich Carol und ihr geschiedener Mann Frank genauso "abstrampeln" müssen wie die Menschen in Birdys Familie, kommt Myles aus einem reichen Elternhaus. Die Wirkung, die er auf Angel und Birdy hat, verdankt sich nicht zuletzt diesem Hintergrund. Die soziale Stellung und das Geld seiner Eltern helfen ihm auch später, als es um Gerichte und Anwälte, um Anhörungen und Prozesse geht. Nicht von ungefähr sagt Frank einmal: "Das hier ist Rhode Island. Da muss man die richtigen Leute kennen."

Stewart O'Nan: Ocean State. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt, Hamburg 2022. 256 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

So entsteht gleichzeitig eine Atmosphäre empfundener Ungerechtigkeit und untergründiger Wut, die sich gegen die Verhältnisse richtet und ebenso gegen das Gefühl der Lähmung, nie etwas ändern zu können. O'Nan zeigt diesen Zorn und die latente Gewaltbereitschaft auch an der Sprache seiner Figuren. Thomas Gunkel hat in seiner intensiven Übersetzung immer wieder plausible Entsprechungen dazu gefunden. "Miststück" und "dumme Kuh" gehören zu den harmloseren Bezeichnungen.

Wie schon in seinen Romanen "Halloween" von 2003 oder "Alle, alle lieben dich" von 2008 verbindet Stewart O'Nan Geschichten von verschwundenen Jugendlichen mit der Frage nach der Erinnerung. Ohnehin ist der Zerfall schon immer eines seiner großen Themen, sei es der alter Familienstrukturen wie in "Abschied von Chautauqua" (2002) oder der der reichen Mittelschicht seiner Geburtsstadt Pittsburgh wie in "Emily, allein" (2011). Und weil soziale Gefüge nicht halten und Beziehungen zerbrechen, muss wenigstens an sie erinnert werden. So sieht es jedenfalls Marie, die ganz am Ende des Buches verrät, dass die vergangenen Ereignisse für sie keine "verstaubte Geschichte" sind, sondern "immer wieder frisch, unauslöschlich wie der erste Schultag, an dem die neuen Schüler alte Gerüchte verbreiten".

Dieser Schluss, mit dem ein wenig zu deutlich einige Fragen geklärt werden, die zuvor angenehm offen waren, gehört nicht zu den Stärken des Buches. Es ist auch nicht ganz klar, ob Stewart O'Nan seine beiden Erzählstränge damit tatsächlich verbinden kann oder ob das nicht eher eine erzählerische Unmöglichkeit darstellt. Aber das schmälert nicht die Kraft seines Romans. O'Nan zeigt, wie der Zerfall gesellschaftlicher Bindungen, Traumata und tief eingeschriebene Verlustängste im einzelnen Menschen zusammenhängen. Und welche Handlungen sich daraus im schlimmsten Fall ergeben können. Er benötigt dazu keine theoriegesättigten Sätze, sondern allein eine Sprache, die den Bewegungen seiner Figuren folgt: ihren Gesten, ihren Beobachtungen, ihren Gedanken, ihren Empfindungen.

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