Zur Buchmesse: Slowenische Lyrik:Mehr Dichter als Kleingärtner

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"Daneben wachsen Hochhäuser": Postkarte von Ljubljana in den Sechzigern. (Foto: Archive PL/mauritius images / Alamy Stock P)

Das Buchmesse-Gastland Slowenien hat nur zwei Millionen Einwohner, aber unglaubliche 300 neue Gedichtbände jährlich: Bei der Orientierung hilft eine glänzende neue Anthologie.

Von Nico Bleutge

Gleich im ersten Gedicht dieses Bandes entwickelt der Sprecher ein kleines Porträt der Stadt, in der er lebt. Wir sind in Ljubljana, vermutlich in den Sechzigerjahren. Der Mann steht auf dem Balkon und skizziert den öden Ablauf eines gewöhnlichen Tages, vom morgendlichen Blick in die Zeitung bis zu den immer gleichen Radiomeldungen. Dann geht sein Blick auf den Hinterhof: "Die Flaschen häufen sich im Hof, / daneben wachsen Hochhäuser, / der Nachbar aus dem dreizehnten Stock tritt / nachmittags auf die Wolke und geht spazieren, / er observiert die Welt, alles in bester Ordnung, / so gerne beobachtet er die Kleingärtner / und verwechselt sie ständig mit Schriftstellern."

Es ist ein äußerst passendes Auftaktgedicht, das Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger für ihre Anthologie slowenischer Lyrik ausgewählt haben. Nicht nur, weil so schon zu Beginn der Titel der großen Sammlung eingefangen wird. Nicht nur, weil der Verfasser Edvard Kocbek den Versen mit seiner ganz eigenen Ironie wie nebenbei eine Kritik an ideologischen Verwerfungen und Spitzeltum eingeschrieben hat.

Sondern auch, weil Kocbek in seinem vieltönigen Auswalzen des Unoriginellen zeigt, dass die slowenische Lyrik gerade aus höchst originellen Stimmen besteht. Und vor allem, weil die Verwechslung von Kleingärtnern und Schriftstellern eine gute Pointe des Gedichts ist. Denn wenn man dem Nachwort des herausgebenden Teams trauen darf, erscheinen in Slowenien jedes Jahr 3500 Bücher, darunter 300 Gedichtbände. Bei gerade einmal zwei Millionen Menschen, die in dem Land leben, eine unglaubliche Quote.

Matthias Göritz, Amalija Maček, Aleš Šteger (Hg.): Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Hanser Verlag, München 2023. 312 Seiten, 36 Euro. (Foto: HANSER/HANSER)

"Slowenien ist so / winzig, du könntest es / verfehlen", dichtete einst Tomaž Šalamun. Er war einer der ganz Großen der slowenischen Lyrik. Für diese Außenwahrnehmung hat er von Anfang an viel getan: Damit man ihn niemals verfehlen könne, verabschiedete er sich von traditionellen lyrischen Mitteln, holte Verfahren des Surrealismus und Futurismus in seine Verse und lud sie neu auf. Und er richtete sich international aus, lebte und lehrte immer wieder in den USA. Das Bewusstsein für die Brüche des 20. Jahrhunderts teilte er mit Dichtern wie Veno Taufer oder Niko Grafenauer, die sich entschieden, im Land zu bleiben und sich vor Ort für demokratische Strukturen oder für den Aufbau einer Lyrikszene einzusetzen.

Eine der großen Leistungen dieser Anthologie besteht darin, dass sie zeigt, aus was für unterschiedlichen Tönen, Prägungen und Temperamenten sich jenes Gefüge zusammensetzt, das man so leichthin "slowenische Lyrik" nennt. Da treffen etwa Andrej Brvars blockartige Langzeilen, die bewusst in der "prosaischsten, armseligsten, natürlichsten Form" gehalten sind, auf Grafenauers hochartifizielle "Stimmen (...) am bedeutungsrand".

Wobei Göritz, Maček und Šteger in ihrer Auswahl einen klaren zeitlichen Schnitt setzen. Sie verzichten etwa auf die für die slowenische Lyrik so wichtige Romantik und beginnen mit der Zeit um den Ersten Weltkrieg, in der die slowenische Lyrik, so das Editionsteam, wirklich eigene Konturen gewinne. Um dann rund 80 Stimmen zu versammeln, die weit bis ins 21. Jahrhundert hineinreichen, Ana Svetel, die jüngste Dichterin, wurde 1990 geboren.

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Wie ordnet man eine solche Fülle von Gedichten an? Göritz, Maček und Šteger haben versucht, zwei ganz unterschiedliche Prinzipien zu vereinen, das chronologische und das thematische. Und sie verbinden die Ausrichtung an prägenden Einzelstimmen mit chorartigen Partien. So gibt es hier, in teils bravem Wechsel, Kapitel über wichtige Dichtende wie Dane Zajc oder Ifigenija Simonović (der Dichterinnenanteil innerhalb dieser kanonischen Figuren hätte durchaus noch etwas größer ausfallen können) und Kapitel, die unter Titeln wie "wasser & erde" oder "verwandtschaft & nähe" eine Vielfalt an Stimmen ausbreiten.

Überraschenderweise bleibt auch in den thematischen Kapiteln der chronologische Gedanke insofern erhalten, als die Gedichte nach den Geburtsjahrgängen der Schreibenden angeordnet sind. Dass es trotz dieser strengen Vorgabe meist gelungen ist, die Gedichte über Motive und Sprachteilchen miteinander zu verknüpfen oder in Spannung zueinanderzusetzen, ist eine Kunst für sich. Was das Lesen allerdings erschwert, ist das Fehlen von Entstehungsdaten. Wurde ein Gedicht 1960 oder 1980 geschrieben? Stammt es aus einem Früh- oder einem Spätwerk? Solche Fragen bleiben offen.

Dennoch ist es sehr anregend, in diesen Versen, in denen immer wieder die Erde bebt und "alle Glühwürmchen rasen" (wie es bei Šalamun einmal heißt) auf Entdeckungsreise zu gehen. Obwohl es so verschiedene Stimmen gibt, sind nicht wenige der ausgewählten Gedichte sprachlich eher vertraut gebaut, das lässt sich auch an den abgedruckten slowenischen Originalen ablesen. Die Herausgebenden setzen zudem gerade in der zweiten Hälfte des Buches nicht selten auf Gedichte, die szenisch oder narrativ ausgerichtet sind.

Zwischen Karst und Küste: die Gedichte besingen das dörfliche Leben

Umso spannender sind jene Stimmen, die sich formal voranwagen und ihre Kraft aus dem Spiel mit der Sprache gewinnen. Srečko Kosovel zum Beispiel, der nicht weniger versuchte, als eine neue Mystik zu entwerfen, "eine Mystik des Menschen". 1904 geboren (und schon mit 22 Jahren gestorben!), nahm er Bildwelten und Sprechweisen des Expressionismus und Dadaismus auf. Er reflektierte kritisch den Krieg und legte sich seine Verse wie zerfetzte Masken um: "Mein Gedicht ist Explosion, / wilde Zerrissenheit. Disharmonie. / (...) Mein Gedicht ist mein Gesicht."

Landschaftlich ist Slowenien von Wäldern geprägt, von Karstflächen und dem kleinen Abschnitt Meeresküste zwischen Koper und Piran. So wundert es nicht, dass in den Gedichten immer wieder dörfliches Leben besungen wird, dass Tiere auftauchen, Pflanzen und Wasserformationen aller Art. Eine der eher wenigen Dichtenden, die indes die Paradoxien der Großstadt in ihre Verse holen, ist Svetlana Makarovič (1939 geboren), die in Ljubljana lebt.

Ihr genauer Blick auf gesellschaftliche Gewalt, von den Verdrängungen der Nachkriegszeit bis zu patriarchalen Strukturen, wandert in gleichsam phantasmagorischer Verwandlung auch in ihre klang- und rhythmusstarken Gedichte ein. Litaneihaft beschwörend und oft in ironischer Brechung nimmt sie Versatzstücke aus Märchen, Gebeten und Kinderliedern auf. Wer seinem Kind ihr "Schlaflied" vorsingt, wird vermutlich keine ruhige Nacht haben: "Fürcht dich nicht, / fürcht dich nicht, / der Wind singt eh nur, / wie es sein wird, / wenn wir nicht mehr sind, / (...) er wird dir die Brust auftun, / das Herz austrocknen".

Die Zusammenstellung lässt sogar die Sprache des Meeres erahnen

Ludwig Hartinger hat in seiner Übersetzung den liedhaften Ton schön eingefangen, der sich in den zahlreichen Wiederholungen, den verknappten Sätzen und im Deutschen in Partikeln wie "eh" zeigt. Ein sehr großer Teil der Übersetzungen des gesamten Bandes kommt vom Editionstrio selbst. Daneben finden sich ältere Übertragungen, von Klaus Detlef Olof etwa oder von Fabjan Hafner, die nicht zuletzt verdeutlichen, welch langen Vorlauf ein solches Großprojekt hat. Bei so vielen übersetzten Gedichten versteht es sich von selbst, dass die deutschen Versionen ganz unterschiedlich ausfallen. In der Summe aber kann man beim Lesen "Stille und Stimme" gleichermaßen erfahren - und sogar die Sprache des Meeres erahnen.

"Mach du nur den Mund auf, / alles andere erledigt der Transistor", schreibt Edvard Kocbek in seinem Ljubljana-Gedicht. Aber das trifft es nicht. In dieser Poesie-Wunderbox erledigt fast alles der Mund, als Stimm-Klang der Verse, der mal Feuer ist, mal Wasser, hier in fantastische Welten driftet, dort die gesellschaftliche Realität skizziert. Oder gleich das ganze Weltall auffaltet, wirbelnd, flimmernd, immer wieder nah und fremd in einem.

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