Sir Walter Scott: "Chrystal Croftangrys Geschichte":Womit Karl Marx entspannte

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Sir Walter Scotts bekannteste Figur, der edle Ritter Ivanhoe, hier in einem Gemälde von Eugène Delacroix: "Rebecca und der verwundete Ivanhoe" von 1823. (Foto: mauritius images / Incamerastock)

Sir Walter Scott, der Begründer des Historischen Romans und Romancier der Übergangsgesellschaften ist ins literarische Hintertreffen geraten. Wie schade. Kleine Einladung zum Wiederentdecken.

Von Gustav Seibt

Einen Autor, den Goethe und Heine, Karl Marx und Theodor Fontane bewunderten, mit dem sich Balzac und Puschkin beschäftigten, dem Georg Lukács noch im 20. Jahrhundert eine lange Abhandlung widmete - sollte man den nicht kennen? Aber wer kennt eigentlich noch die dickleibigen Romane von Sir Walter Scott, der diesen Sommer 250. Geburtstag hatte? Zu diesem Datum, dem 15. August, schrieb Fontane 1871 - längst mit dem deutsch-französischen Krieg beschäftigt - noch ein respektvolles Zeitungsblatt.

Jetzt, 150 Jahre später, ist nicht einmal in England oder Schottland viel passiert. Scott, einer der populärsten Schriftsteller aller Zeiten, ist in der Flut der Zeiten untergegangen wie ein vollbesetztes Hochseeschiff, mit Mann, Mädchen und Maus, mit allen seinen vielgeliebten und beweinten Gestalten, zum Beispiel der nur in der Oper überlebenden Braut von Lammermoor. Nur der edle Ritter Ivanhoe hat sich auf die Planken von Jugendbuch und Film gerettet, dabei ist er eher untypisch für das ganz auf Schottland gerichtete Werk seines Erfinders.

Heine nannte Scotts Romane 1822 "den Jungfernkranz der Lesewelt", anspielend auf den "Freischütz" von Carl Maria von Weber, dessen Melodien damals ganz Berlin summte. Goethe unterhielt sich mehrmals einlässlich mit Eckermann über den britischen Kollegen, Karl Marx las ihn zur Entspannung, im Wechsel mit Balzac, denn an beiden Erzählern schätzte er den historisch-sozialen Materialreichtum. Fontane sah in dem Umstand, dass Scotts erster Roman im selben Jahr erschien, in dem Napoleon unterging, ein Zeichen der Zeit.

Die dramatische Handlungen entsteigt dem Gewoge seines Stils so langsam, dass oft süße Folter daraus wird: Sir Walter Scott (1771-1832). (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Und aus diesem Gedanken entwickelte noch Lukács 1954 seine Theorie des historischen Roman: Das Zeitalter der Revolution habe Geschichte zum Massenerlebnis gemacht und darum eine Erzählform hervorgebracht, die alle Lebensverhältnisse, auch die des Alltags, als historisch wandelbar vorführte. Zuvor waren Geschichtserzählungen Königsdramen gewesen, auch wenn sie nicht auf der Bühne gezeigt wurden, sie spielten bei Helden und Herrschern und ihren Frauen. Diese großen Menschen trugen oft unhistorische Kostüme, zum Beispiel Versailler Schnallenschuhe und Perücken, auch wenn sie alte Römer oder Griechen waren.

Scott änderte beides: die Hauptfiguren und die Kostüme. Er zeigte durchschnittliche Helden, und er stellte sie in minutiös, mit archäologischer Akribie ausgemalte Umgebungen. Es ging also um Zeitbilder und um die Erfahrung übergreifender Prozesse des Wandels bei Menschen wie der Leserin und mir. Der behäbige Gentleman mit Finanzsorgen, der Viehtreiber, ein kleinadeliger Ritter, das ausgestoßene Gschwerl im Wald mit seinem Robin Hood, der fette Mönch, der verfolgte Jude: So sind Scotts Figuren. Und immer wieder zeigt er Übergangsgesellschaften, am ausführlichsten am Beispiel des heimischen Schottland den Untergang der wilden Hochlandclans, oder im "Ivanhoe" den fortdauernden Zwiespalt im Gefolge der normannischen Eroberung Englands von 1066, die eine Zweiklassengesellschaft von französischen Rittern und angelsächsischen Grundbesitzern geschaffen hatte.

Dabei gingen historischer Exotismus - die Ausmalung einer reizvoll fremden Vergangenheit - und sentimentale Identifikationsangebote eine damals unwiderstehliche Verbindung ein. Die für Marx und Lukács bezwingende Größe von Scott bestand nun darin, dass daraus keine Nostalgie wurde. Scott schilderte das Vergangene liebevoll, oft mit Humor, aber er trauerte ihm nicht nach. Diese Fähigkeit zu einfühlsamer Distanz hat er Fontane vererbt, dessen märkischer Adel durchaus etwas von den schottischen Clans hat, denen Scott den Nachruf schrieb: ehrwürdig, aber historisch überlebt.

Sein ganzes Werk, eine Folge des "Götz von Berlichingen"

Aber all diesen Wirkungen zum Trotz: Scott ist weg. In Deutschland kann es auch an den Übersetzungen liegen, die überwiegend auf Vorlagen des 19. Jahrhunderts zurückgehen und die gewissenlose Schludrigkeit einer Übersetzerindustrie zeigen, die Arno Schmidt am Beispiel des "Lederstrumpf"-Autors James Fenimore Cooper geißelte. Dabei sind freche Kürzungen nicht einmal das Hauptproblem. Schlimmer ist die Verfehlung von Scotts Stillage. Der Erzählerton ist distinguiert, altmodisch beredt, man fühlt sich gleich am Kaminfeuer sitzend und kann diese fast lateinisch-rhythmisch rollenden Bücher allein dieses Tons wegen lieben. Die durchaus dramatischen Handlungen entsteigen dem Gewoge so langsam und allmählich, dass oft süße Folter daraus wird. Der europäische Roman hat schon bald auf grellere Wirkungen gesetzt, und der behagliche Scott blieb seither in den vielen schmuddeligen Oktavausgaben der Antiquariate vergraben.

Rühmen muss man daher das Wagnis eines kleinen Verlags, der zum Jubeljahr doch eine Neuübersetzung herausgebracht hat. Michael Klein überträgt ein allerdings untypisches Spätwerk Scotts, die "Chronicles of the Canongate" unter dem Titel "Chrystal Croftangrys Geschichte". Warum er den Titel änderte und einiges von dem Buch wegließ, erklärt er plausibel, es braucht hier nicht wiederholt zu werden. Denn entscheidend ist: Das, was Klein übersetzt hat, blieb unangetastet und er hat es so gut gemacht wie kaum einer seiner Vorgänger.

Das für Scott ungewohnt kurze Buch bettet zwei meisterliche Novellen in eine raffinierte Rahmenerzählung ein, die seine ausführlichste Selbsterklärung als Schriftsteller enthält. Der fiktive Verfasser hat einen Bankrott hinter sich (wie Scott damals selbst) und zieht sich von der Welt zurück, um zu schreiben. Seine Geschichten, die er sich von Zeitzeugen erzählen lässt, erprobt er an seiner Haushälterin, die also uns, das Lesevolk, vertritt.

Zuvor hatte der Erzähler, Mister Croftangry, den Versuch gemacht, an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren - allein, dort steht an Stelle des Elternhauses eine inzwischen pleitegegangene moderne Fabrik, die groteskerweise gotische Spitzbogenfenster hat. Dieses Bild, das Verschwinden der Vergangenheit durch Industrialisierung und die Vergeblichkeit historistischer Aufhübschung, zeigt Scott auf der Höhe zeitdiagnostischer Bewusstheit, für ein Werk von 1827 wahrlich buchenswert.

Sir Walter Scott: Chrystal Croftangrys Geschichte. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Klein. Morio Verlag, Heidelberg 2021. 318 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Die beiden darin eingebetteten Novellen - selten gibt es Scott in so knapper Form - resümieren sein Lebensthema: Sie zeigen in dramatisch zugespitzter Form das vom modernen Rechtsstaat erzwungene Ende des Clanlebens im schottischen Hochland samt seinen archaischen Ehrbegriffen. Hier sollte Nacherzählung der Spannung nicht vorgreifen. Zu rühmen ist vor allem die zweite Geschichte, die von zwei befreundeten Viehtreibern handelt, die in einen tödlichen Streit geraten. Hier erreicht Scott die Wucht von Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre", ja man könnte sogar von Ferne an Kleists "Michael Kohlhaas" denken.

Was an ein noch gar nicht berührtes Thema erinnert: Scotts liebevolle Zuwendung zur deutschen Literatur. Sein ganzes Werk, so hat er einmal gesagt, sei eigentlich eine Folge von Goethes "Götz von Berlichingen". Es gibt also schon einen Grund, auch hierzulande auf den edlen Erzähler Sir Walter Scott einen herzhaften Toast auszubringen.

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