Neuer bester Film aller Zeiten:Huch, eine Regisseurin!

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Delphine Seyrig spielt die Hauptrolle in "Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles". (Foto: Vertrieb)

Der neu gekürte beste Film der Kinogeschichte kommt erstmals von einer Frau: "Jeanne Dielman" von Chantal Akerman. Ist das bloßer Diversitätshype - oder ein verdienter Spitzenplatz?

Von Fritz Göttler

Ein mächtiger Ruck ging am Donnerstag durch die Kinogeschichte. An diesem Abend stellte die britische Filmzeitschrift Sight & Sound das Ergebnis ihrer neuen Umfrage nach den "Greatest Films of All Time" vor, die seit 1952 alle zehn Jahre durchgeführt wird. Und erstmals steht der Film einer Regisseurin an der Spitze, "Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles". Gedreht von Chantal Akerman im Jahr 1975, da war sie fünfundzwanzig Jahre alt, 2015 ist sie in Brüssel gestorben. Und noch eine zweite Frau ist unter den Top Ten gelandet, Claire Denis mit ihrem lakonischen Fremdenlegionärsporträt "Beau Travail" von 1998. Die Anzahl der Stimmberechtigten wurde in der Umfrage im Vergleich zu 2012 nahezu verdoppelt, es gab also einen kleinen Schub an Diversität.

Dieses Best-of-Ranking, zu der Sight & Sound Filmkritikerinnen und Filmemacher aus aller Welt einlädt, ist inzwischen eine legendäre Institution und wird heftig diskutiert - auch von Leuten, denen Listen sonst eher dubios und unwichtig vorkommen. Jahrzehntelang war der unangefochtene Top-Ten-Spitzenreiter "Citizen Kane" von Orson Welles, auf den Plätzen dahinter tummelten sich Akira Kurosawa und Yasujiro Ozu, Federico Fellini und Stanley Kubrick (dessen "2001" diesmal in einer separaten Liste, in der nur Filmemacher gewertet werden, den Spitzenplatz erlangte), Carl Theodor Dreyer und "Singin' in the Rain". Vor zehn Jahren gab es dann den Thronsturz, da wurde "Citizen Kane" verdrängt von "Vertigo", Hitchcocks ultrasomnambulem Traumfilm.

Dass "Jeanne Dielman" ein Meisterwerk und ein würdiger Spitzenreiter ist, ist unbestreitbar und kein Geheimnis, der Film wird seit Jahrzehnten gerühmt und studiert. Dass weniger Leute ihn gesehen haben als "Vertigo" und Co., liegt daran, dass "Jeanne Dielman" eher in Kinematheken oder Programmkinos läuft als in großen Kinosälen (oder als TV-Wiederholung) - und dreieinviertel Stunden lang ist.

Chantal Akermans Meisterwerk ist ein Solitär, das Leben einer kleinbürgerlichen Hausfrau in Brüssel, Delphine Seyrig spielt sie - man kennt sie aus "Letztes Jahr in Marienbad" oder aus diversen späten Buñuel-Filmen -, ihr rotblondes Haar ist kunstvoll onduliert, wie es seit den Sechzigern Mode war. Man folgt ihr in langen (mindestens so präzise wie bei Hitchcock abgezirkelten) Einstellungen bei ihrem Tagesablauf.

Viele rühmen "Jeanne Dielman" als großen feministischen Film

Sie ist alleinerziehende Mutter, weckt morgens den Sohn, abends essen sie gemeinsam, sie schält Kartoffeln in der Küche, brät Schnitzel - Mehl und Panade, Eigelb alles en détail gefilmt -, sie geht einkaufen und macht eine Teepause in einem Café. Wenn sie in der Wohnung von einem Zimmer ins andere geht, macht sie sorgsam das Licht aus. Ein Leben, das ganz in Ordnung ist. Am späten Nachmittag steht ein Mann vor der Tür, Jeanne Dielman bessert ihr Haushaltsgeld auf - das commerce im Titel des Films deutet es an - mit Prostitution, dafür bereitet sie ihr Bett so metikulös vor wie ihre Schnitzel.

Viele rühmen "Jeanne Dielman" als den großen feministischen Film des vergangenen halben Jahrhunderts. Dass er nun an die Spitze der Top Ten gerückt wurde, mag bewirken, dass er öfter gezeigt und von mehr Leuten gesehen wird. Und dass man mit ihm klären könnte, was Feminismus eigentlich bedeutet, im Kino und generell - wie Glamour und Alltag, Einsamkeit und Lust zusammenspielen. In seiner magischen Konsequenz steht "Jeanne Dielman" dem vorherigen Spitzenreiter "Vertigo" in nichts nach.

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