Serie 1972, Teil 11:Autor und Alleinherrscher

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Harald Szeemann und - links von ihm - Documenta-Gründer Arnold Bode bei der Eröffnung der Documenta 5. (Foto: Stadtarchiv Kassel)

An der Kunstausstellung Documenta 5 war vieles neu, vor allem aber die Rolle des Kurators, die Harald Szeemann für sich erfunden hat.

Von Catrin Lorch

Wenn man in der Kunstgeschichte den epochalen Bruch beschreiben will, den die fünfte Ausgabe der Documenta in Kassel bedeutet, dann muss man sich dieses Bild genau ansehen. Kein Kunstwerk, kein Ausstellungssaal, sondern ein Pressefoto in Schwarz-Weiß, unmittelbar wie ein Schnappschuss und auch so unordentlich. Drei Herren in schlecht sitzenden Anzügen sind darauf zu sehen, sie strahlen den Bärtigen, Documenta-Kurator Harald Szeemann, der im Parka zwischen ihnen steht, mit der elektrisierten Freundlichkeit an, mit der man einem Guerilla-Kämpfer entgegentreten würde, unsicher, ob eine Verbrüderung oder Geiselnahme ansteht. Kassels Oberbürgermeister Karl Branner, Bundesminister Lauritz Lauritzen und Documenta-Gründer Arnold Bode wissen noch nicht, dass der Neue beides vorhat.

Die von Szeemann verantwortete Documenta 5 verändert im Jahr 1972 alles: Sie gilt nicht nur als wichtigste Ausgabe der Documenta, sondern als eine der bedeutendsten Ausstellungen der Nachkriegszeit überhaupt. Es ist zudem der Moment, in dem aus einem bedeutenden bundesdeutschen Großprojekt erstmals ein internationales Ereignis wird.

An den Wänden hingen "Spiegel"-Cover, Cola-Werbung, Heiligenbildchen

Nach dem Krieg war Arnold Bode im zerbombten Kassel mit seiner an die Bundesgartenschau angehängten Documenta der Importeur eines westlichen, auf Freiheit und Autonomie zielenden Kunstbegriffs. Importeur ist dabei durchaus buchstäblich gemeint: In Kassel trafen Transportkisten ein, die im New Yorker Museum of Modern Art mit abstrakter Kunst gefüllt worden waren. Die er in der von ihm mit Plastikfolie wirkungsvoll verhängten Ruine des Fridericianums perfekt zur Geltung brachte. Und mit denen er die Debatte um Abstraktion und Malerei im Nachkriegsdeutschland anregte.

Von 1972 an dreht sich das Verhältnis um: Kassel wird alle fünf Jahre zum Zentrum, das die Welt mit einem neuen Begriff von der Kunst versorgt. Die Bundesrepublik hat zu dem Zeitpunkt kulturell aufgeholt, das Publikum, vor allem für Kunst, ist politisiert und befragt offensiv und noch aus dem Schwung der späten Sechzigerjahre heraus die hoch subventionierte Kulturszene. Mit Stildiskussionen um internationale Abstraktion oder amerikanische Pop Art lässt es sich nicht mehr abfertigen. Was also ist die Daseinsberechtigung von Museum, Ausstellungshalle und Akademie?

Der Titel, "Befragung der Realität - Bildwelten heute", gab die Richtung vor, der Ausstellungsparcours ließ vor allem die bürgerlichen Kunstliebhaber ratlos zurück. Künstler wie Jasper Johns, Marcel Broodthaers oder Marcel Duchamp begegneten in den klassizistischen Sälen der Neuen Galerie den Bildwelten von Science-Fiction-Illustratoren, Spiegel-Titelseiten und Schallplatten-Covern. Charles Wilps Plakate für Afri Cola und Cinzano-Reklame hingen an denselben Wänden wie Gemälde von Gerhard Richter und Franz Gertsch. Daneben gab es (unter der Überschrift "Bildwelten der Frömmigkeit") Rosenkränze, Marienfiguren und Andachtsbilder zu sehen. Spätmittelalterliche Bronzefiguren, Blinky Palermo, Agnes Martins zurückhaltende Gemälde und die höchst umstrittene Sektion "Bildnerei der Geisteskranken".

Joseph Beuys trat zum Boxkampf an: Punktsieg für die Kunst

Die Ausstellung, die vorgab, einfach nur genau auf die Bildproduktion einer Gesellschaft zu schauen, war vor allem eins: hochpolitisch. Der junge Jörg Immendorff fragte im Tonfall eines knallbunten Agitprop: "Für was? Für wen? Diese Fragen an die Künstler stellen - auf Antwort bestehen!", während KP Brehmer manipulierte Deutschlandfahnen hisste, deren unterschiedlich große Farbflächen die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik grafisch umsetzten. Edward Kienholz' Plastik thematisierte die Kastration eines Schwarzen, während zum Filmprogramm nicht nur Andy Warhols Klassiker "Empire" lief, sondern auch "Die Rote Frauenkompagnie", ein Film über ein Revolutionäres Ballett aus der Volksrepublik China.

Joseph Beuys im Büro seiner "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung". (Foto: Manfred Vollmer/SZ Photo)

Erstmals traten Performer wie Rebecca Horn und Ben Vautier in einer Großausstellung auf, während Fritz Schwegler mit seinen Bildtafeln wie ein Bänkelsänger durch Kassel lief und Joseph Beuys in seinem Büro der "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung" vor einer Vase mit einer roten Rose auf Besucher wartete. Zum Ausstellungsschluss trat er dann bei einem Boxkampf im Fridericianum gegen den Studenten Abraham David Christian an, die fünfte Documenta endete nach drei Runden mit einem Punktsieg für die Kunst.

Bevor der Nachruhm allerdings einsetzen konnte, endete diese Documenta erst einmal im Streit um die Finanzen: Harald Szeemann hatte ein Defizit hinterlassen, für das man ihn in Kassel persönlich haftbar machen wollte. Erst nach dem internationalen Protest von Museumsdirektoren und Ausstellungsmachern, die drohten, nie wieder mit Kassel zusammenzuarbeiten, ließ man die Sache fallen. Was blieb, war zunächst die Formel von den "Individuellen Mythologien", die in der Vermittlung von Konzept bis Malerei in den folgenden Dekaden zur tragenden Erklärung wurde für alles - von Michael Buthes Inszenierungen über Lothar Baumgartens Tropenhäuser bis hin zu Anselm Kiefers Malerei.

Was aber wirklich epochal war, das war die Rolle, die Harald Szeemann selbst so virtuos besetzt hatte: Aus dem Ausstellungsmacher oder Kunsthistoriker, der eine Schau zusammenstellte, war der "Kurator" geworden, der künstlerisch alleinverantwortlich die Regie und Autorenschaft verantwortet, die Inszenierung und den theoretischen Rahmen festlegt. Und dessen Ausstellung am Ende mehr ist als eine Auswahl, eine Hängung oder eine thematische Setzung, nämlich ein kreativer Akt.

Rückblickend aus dem Jahr 2022 - die vom Künstlerkollektiv Ruangrupa verantwortete Documenta Fifteen steht bevor - fällt auf, dass dieser Alleinherrscher mit den Anfang der Siebzigerjahre aufkommenden Begriffen wie Partizipation, Kollektiv und Prozess nicht viel am Hut hatte - im Gegenteil: "Die Auswahl kann im Grunde gar nicht nach demokratischen Gesichtspunkten getroffen werden", schrieb Szeemann selbst. "Im Kunstkontext ist nur eine subjektive Auswahl möglich. Je subjektiver, desto besser."

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