Theaterreport aus Graz:Wunder der Krise

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Wutmenschen in permanenter Selbstbespiegelung: das Ensemble aus dem Stück "Eleos. Eine Empörung in 36 Miniaturen" von Caren Jeß. (Foto: Lex-Karelly/Schauspielhaus Graz)

Das Schauspielhaus Graz begeistert mit der Uraufführung der Stücke "Garland" und "Eleos". Das von Iris Laufenberg geleitete Haus bleibt auch in Zukunft in Frauenhand.

Von Christine Dössel

In Graz verstehen die Männer die Welt nicht mehr. Dass ihre Stadt künftig von einer kommunistischen Bürgermeisterin regiert werden soll, und das auch noch im Verbund mit einer grünen Vizebürgermeisterin, können viele noch gar nicht fassen. Bei der Gemeinderatswahl im September hat die Grazer KPÖ, die Kommunistische Partei Österreichs, mit Elke Kahr an der Spitze den bisher unerschütterlichen ÖVP-Langzeitbürgermeister Siegfried Nagl so überraschend und deutlich geschlagen, dass es weit über die Steiermark hinaus Aufsehen erregte. Das Magazin Profil kürte den "in der westlichen Hemisphäre einmaligen Siegeszug" zum "Wunder von Graz".

Die erste Frau im Bürgermeisteramt - und dann auch noch eine Kommunistin! Was sind das nur für Zeiten ...

"Es ist auf alle Fälle eine Revolution", sagt Iris Laufenberg, die Intendantin des Grazer Schauspielhauses, die als Kennerin der althergebrachten "Vetternwirtschaft" in der Stadt und als erklärte "Feministin" aus ihrer Freude keinen Hehl macht. Sie selber ist, nach Anna Badora, immerhin schon die zweite Frau auf dem Grazer Intendantenposten, und auch ihre Nachfolgerin, die am Montag der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ist eine Frau: die deutsche Dramaturgin Andrea Vilter, seit 2016 Professorin für Dramaturgie und Regie (im Fachbereich Bühnen- und Kostümbild) an der Weißensee Kunsthochschule Berlin. Die 55-Jährige wird Laufenberg in der Spielzeit 2023/24 ablösen, wenn diese als Nachfolgerin von Ulrich Khuon die Intendanz am Deutschen Theater Berlin (DT) antritt. Laufenberg und Vilter sind gleich alt und Kölnerinnen. Beide halten Literatur für wichtig und machen sich stark für zeitgenössische Dramatik.

Die aktuelle und die künftige Grazer Intendantin: Iris Laufenberg (links) und Andrea Vilter, beide aus Köln stammend. (Foto: Lupi Spuma, Marija Kanizaj)

Laufenberg gründete in Graz nicht nur ein "DramatikerInnenfestival", sie kooperiert auch mit dem DT und dessen renommierten " Autor:innentheatertagen" - nämlich insofern, als sie jedes Jahr eines der drei Stücke, die eine Jury in Berlin für die "Lange Nacht" des Festivals auswählt, in Graz zur Uraufführung bringen lässt. Manchmal stößt sie dabei auf Texte, die in Berlin zwar nicht ins Finale kommen, die Laufenberg und ihre Dramaturgie aber so gut finden, dass sie sie zusätzlich in ihr Uraufführungsprogramm heben. "Garland" von Svenja Viola Bungarten ist so ein Fall: eine deutsche Komödie zum Thema Klimakatastrophe mit vielen Anleihen beim und Anspielungen auf den amerikanischen Film, especially auf die 1969 an zu vielen Pillen und Drogen gestorbene, von der Traumfabrik Hollywood von Jugend an ausgebeutete Schauspielerin, Sängerin und Schwulen-Ikone Judy Garland. Das ist so absonderlich, wie es klingt, schlägt kurios-katastrophische Kapriolen und geht am Ende erstaunlich gut auf.

"Ich zähle immer", sagt die Intendantin mit Blick auf die Quote

"Garland", aufwendig inszeniert als groteske Dystopie auf der großen Bühne im Grazer Schauspielhaus, bildet mit dem wesentlich postdramatischer aufgestellten Stück "Eleos" von der jungen Dramatikerin Caren Jeß im kleineren Haus Zwei ein bemerkenswertes, vom Premierenpublikum begeistert gefeiertes, in der Schreib- und Herangehensweise höchst unterschiedliches Uraufführungs-Doppel. Stark, wenn ein Theater beides macht und sich das leisten kann und will - und wenn Frauen dabei weder in Sachen Autorenschaft noch Regie zu kurz kommen. "Ich zähle immer", sagt Iris Laufenberg und meint damit eine von ihr als Intendantin verinnerlichte 50-Prozent-Quote.

Die Autorin Svenja Viola Bungarten, Jahrgang 1992, hat in Berlin Szenisches Schreiben studiert, bereits einige Preise abgeräumt und auch schon beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gelesen. Sie ist zweifellos ein Talent. Ihre Klimakrisenkomödie "Garland" (zu lesen wie ein Land, das "gar ist", im Sinne von "verzehrt", "aufgebraucht") spielt in Ostdeutschland, genauer: im Städtchen Penig in Sachsen, wo es - wirklich wahr - einen Gemeindeteil gibt, der Amerika heißt. Weshalb das Stück so daherkommt, als würde es in Amerika spielen, genauer: in einem amerikanischen Film in the middle of nowhere. Es ist heiß, es herrscht Dürre und Endzeitstimmung. Natur und Menschen leiden unter einer extremen Hitzewelle. In einer gottverlassenen Radiostation hält die Moderatorin Lorna Luft (sehr hot und sehr cool: Lisa Birke Balzer) den Lokalsender "Garland" am Laufen, informiert über Neuigkeiten wie den "52. Hausbrand in diesem Sommer" und empfängt Gäste in ihrer Live-Sendung, etwa den abgebrannten Low-Budget-Regisseur Salvatore Brandt, gespielt von Frieder Langenberger im Dauerstressmodus. Dieser, im Hauptberuf Fernfahrer, wirbt für seinen Heimathorrorfilm "Amerika", den niemand sehen will, weil er darin alle gnadenlos sterben lässt, gemäß seiner Devise "die Katastrophe als Zustand".

Onkel Henri und Tante Em (Rudi Widerhofer und Beatrice Frey) zu Gast in der Live-Sendung "Hot Times" der Radiomoderatorin Lorna Luft (Lisa Birke Balzer). (Foto: Lex-Karelly / Schauspielhaus Graz/lex-karelly)

Zum wunderlichen Personal zählen außerdem Tante Em und Onkel Henri, ein altes Farmerehepaar, das sich auf seiner Veranda mit Gewehren umbringen will. Was gottlob nicht gelingt, es wäre gar zu schade um ihren sarkastischen Dialogwitz und die kauzige Skurrilität von Beatrice Frey und Rudi Widerhofer. Überhaupt: In welch einem zeitgenössischen Stück gibt es schon solche Altersrollen - mit so schönen Sätzen wie "Wir hatten Heimweh, obwohl wir zu Hause waren"? Aber auch die Jugend ist fabelhaft vertreten, nämlich in der Figur des Mädchens Dorothee Sturm (Katrija Lehmann mit Frische-Kick und langen Zöpfen), die nichts Geringeres als die Rettung der Welt auf der Agenda hat, jedoch als Brandstifterin polizeilich gesucht wird. Der Unglücks-Cop Gus Brandt (Lukas Walcher) jagt im riesigen Truck seines Bruders Salvatore hinter der 13-Jährigen her. Die ist eine alerte Kreuzung aus Greta Thunberg und jener Dorothy Gale aus dem Film "Der Zauberer von Oz", die von einem Tornado in ein Zauberland irgendwo hinter dem Regenbogen gefegt wird und das Lied "Over the Rainbow" singt, jene Rolle, in der Judy Garland 1939 weltberühmt wurde.

Denn es geht in "Garland" ja schon auch um Judy Garland, die als Figur dieses Namens in einer Tankstelle arbeitet, sich allerdings weigert, Benzin herauszurücken. Sterbenskrank wie Mutter Erde blickt sie ihrem Ende entgegen, singt manchmal aber noch zauberschön (Evamaria Salcher kann das und wirft sich dafür in Robe) und will zum Abschied ihre Tochter finden, die sie als Baby einst weggegeben hat. Das wird ihr, so viel sei verraten, nicht gelingen, obwohl die Gesuchte die Radiomoderatorin Lorna Luft sein könnte, die genauso heißt wie eine echte Tochter der echten Judy Garland. Verwirrend? Das Stück ist voller solcher Bezüge, Querverweise und Anspielungen, die zu erkennen und zu entschlüsseln allerdings keine Bedingung für das Verständnis und schon gar nicht für den Spaß an diesem Abend sind.

Es müssen nicht immer Romanadaptionen und die ewig gleichen Klassiker sein

"Garland" funkelt vor Witz, Verve und Originalität, und über die Stellen, wo es klischee- oder pathosbedingt zu knirschen droht, rettet die famos komödienstabile Inszenierung von Anita Vulesica nonchalant hinweg. Diese Regisseurin, die eigentlich Schauspielerin ist, hat ein Gespür für Irrwitz, Dynamik und Timing, und sie beherrscht auf der amerikanisierten Ödland-Bühne von Frank Holldack unter Einsatz von Drehbühne, fahrbaren Kulissenteilen, einer versenkbaren Tankstelle und einer Videofahrt im Monstertruck auch das große Besteck. Dass Vulesica das gesamte Stück als das Making-of des "Amerika"-Films von Salvatore Brandt inszeniert, zieht klug und komplex noch eine weitere Ebene ein, die der künstlerischen Auseinandersetzung mit Krisen. Hierbei alle Zügel straff in der Regiehand zu behalten, ist keine Kleinigkeit. Aber das ist dieser Abend eh nicht.

"Nicht mit mir!": Wellness-Götter beim Wutaufmarsch in "Eleos" von Caren Jeß. (Foto: Lex-Karelly / Schauspielhaus Graz)

Klein, aber fein ist "Eleos. Eine Empörung in 36 Miniaturen" von Caren Jeß, die schon mit ihrem Erstling "Bookpink" in Graz aufgefallen ist, einer modernen Fabel, in der eine Schar schräger Vögel mit menschlichen Zügen zu Wort kommt. Ihr neues Stück ist eine sprachkünstlerische Wutarie, eine Kakofonie heutiger Erregung und Entrüstung, in den Köpfen, den Herzen, den sozialen Begegnungen und (a)sozialen Medien. Anders als "Garland" hat das Stück keine klassische Dramaturgie, es besteht aus 36 zusammenhanglosen Kurz- und Kürzestszenen: Sprachbildern, Monologen, Hirnwutfetzen, Wortaufmärschen, anschwellenden Schimpfkanonaden ("Na, jetzt geht's aber los hier!"), knappen Dialog-Pingpongs, Reimen und Rezitativen. Da gibt es schon mal ein Wut-Tennis aus "Klock" und "Fuck" oder es werden digitale Nachrichten samt Emojis lustig vermündlicht: "WoooOOooow wie du strahlst ! :heart_eyes: :heart_eyes: :heart_eyes: c daanke :) soo lieb :kiss: :unicorn_face".

Die Figuren heißen a, b und c und fungieren wie Stimmen in einer Komposition. Überhaupt ist das Stück sehr musikalisch geschrieben, teilweise tatsächlich in Notationen und mit vielen Anleihen bei der konkreten Poesie. Das wirkt mitunter ein bisschen überambitioniert, zeugt aber von großer sprachlicher Versiertheit und Verspieltheit. Der junge Regisseur Daniel Foerster entdeckt darin vor allem viel Humor. Er verortet die kapriziöse Sprachpartitur ganz konkret in einem Wellnesstempel, in dem er ein spielfreudiges Ensemble aus acht Schauspielerinnen und Schauspielern sich als grell überschminkte griechische Gottheiten aufführen lässt. Wobei das Innere dieses Sprach-Spas durch eine Stellage auf der Bühne weitgehend verbaut ist, sodass die göttlichen Egoshooter ihre Innenansichten per Live-Kamera nach außen funken. So werden die Bühnenwände immer wieder zum Screen für die notorischen Selbstdarsteller, Giftspritzen und Wut-Twitterer des digitalen Zeitalters, die aber auch vor den Kulissenwänden "mega magic" auftanzen, auftrumpfen und gefährlich aufmarschieren: "Was wir links liegen lassen, taucht rechts wieder auf."

Zwei starke Produktionen, die zeigen, wie aufregend erfrischend neue Stücke das Theater beleben können. Es müssen nicht immer Romanadaptionen und die ewig gleichen Klassiker sein. Andrea Vilter, die künftige Grazer Intendantin, will dann zwar auch wieder mehr den Kanon bedienen, jedoch mit der Absicht, diesen "zu erweitern". Weibliche, schwarze, queere Perspektiven, wie sie in der zeitgenössischen Dramatik inzwischen gang und gäbe seien, die müssten im historischen Kanon noch ausgegraben werden. Bleibt noch viel zu tun.

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