Saidiya Hartman: "Aufsässige Leben, schöne Experimente" und "Diese bittere Erde":Archiv des Maßlosen

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Für wissenschaftliches Schreiben ungewöhnlich: die Sinnlichkeit, mit der Saidiya Hartman etwa ihre Wahrnehmung beim Schlendern durch Harlem mit einbezieht. (Foto: imago images/VWPics)

Wer aus der Normalität ausgeschlossen ist, kann womöglich die Norm aufbrechen. Saidiya Hartman erzählt von schwarzen Frauen auf der Suche nach einem besseren Leben.

Von Marina Martinez Mateo

"Junge schwarze Frauen befanden sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in offener Rebellion", damit beginnt Saidiya Hartman ihre über 400 Seiten lange Studie "Aufsässige Leben, schöne Experimente". Schauplatz dieser bisher selten beschriebenen Rebellion ist der Norden der Vereinigten Staaten. Hartman, Professorin für Literaturwissenschaft an der Columbia University in New York, beschreibt, wie kurz nach dem offiziellen Ende der Sklaverei die Städte des Nordens für das Versprechen eines freieren Lebens standen. Und wie sehr doch Versklavung und rassistische Herrschaft in neuen Formen fortwirkten.

Die These des regen "Nachlebens der Sklaverei" prägt Hartmans Werk seit ihrem ersten, 1997 erschienenen Buch "Scenes of Subjection" und ist enorm einflussreich für die theoretischen Positionen des "Afropessimismus" gewesen, die inzwischen auch in Deutschland diskutiert werden. Die Annahme ist dabei, dass die rassifizierte Gewalt der Versklavung auch jenseits der USA tief in der westlichen Moderne verankert ist und in die Gegenwart hineinwirkt. In ihrem letzten Buch, das nun - gemeinsam mit der Essaysammlung "Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)" - die erste deutsche Übersetzung ihres Werks bildet, verbindet Hartman diese Überlegung mit einem Vokabular der Hoffnung: Auch wenn das Versprechen vom Ende der rassistischen Herrschaft sich als leer erwies, wurden die schwarzen Viertel etwa New Yorks und Philadelphias zu Orten sozialen Experimentierens.

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"Wie sucht man den Schauplatz der Unterwerfung auf, ohne die Grammatik der Gewalt zu reproduzieren?"

Insbesondere schwarze Frauen, so Hartman, waren auf der einen Seite multiplen Formen der Gewalt ausgesetzt, während sie auf der anderen Seite als "Visionärinnen und Vorkämpferinnen" für neue Formen des Zusammenlebens beschrieben werden können. So erzählt Hartman eine doppelte Geschichte: von Rassismus und Segregation, von Ausbeutung, Armut und Abhängigkeit auf der einen Seite - und von Widerständigkeit und Ausbruch, von den flüchtigen Möglichkeiten eines anderen Lebens, von Gemeinschaft und Sinnlichkeit auf der anderen Seite. Sie erzählt die Geschichte des falschen Versprechens von Freiheit wie die tatsächlicher Befreiungsmomente. Exzessive Freiheit innerhalb faktischer Unfreiheit.

Dieses Anliegen ist von einer besonderen Schwierigkeit geprägt, denn die Archive, mit denen sie sich dem Leben schwarzer Frauen nähert - die Fotografien und Dokumente, die ihr Material bilden -, sind selbst Bestandteile einer ihrer beiden Geschichten. Sie sind Instrumente von Kontrolle und Überwachung: Gefängnisprotokolle, soziologische Studien, Zeitungsartikel. Hartman selbst bleibt im Teufelskreis verhaftet - gewaltförmige Bilder werden zum Zeigen der Gewalt reproduziert -, auch wenn sie nach Auswegen Ausschau hält: "Wie sucht man den Schauplatz der Unterwerfung auf, ohne die Grammatik der Gewalt zu reproduzieren?", fragt Hartman in "Venus in zwei Akten", einem der wichtigsten Essays des Bandes "Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)".

Ihren Weg, mit dieser Schwierigkeit umzugehen, beschreibt sie als Methode der "kritischen Fabulation". Dabei wird das Archivmaterial zum Anlass einer "Gegenerzählung". Wenn Hartman in das Leben schwarzer Frauen eintaucht, macht sie diese nicht zum Gegenstand, sondern zum Subjekt ihrer Erzählung. Sie will nicht über die Frauen berichten, sondern "die Welt aus ihrer Perspektive" zeigen, um sie aus der Gewaltförmigkeit des Archivs zu befreien und zu handelnden, fühlenden Akteurinnen werden zu lassen. Dazu versucht sie, deren Sprache und deren Blick einzunehmen, spürt deren Gedanken und Gefühlen etwa beim Schlendern durch die Straßen Harlems, während einer Verhaftung oder in einer Liebesbeziehung nach. Sie zieht in die Schauplätze ihrer Geschichten hinein, baut Straßenzüge und Wohnblöcke plastisch vor der Leserin auf, fängt die Geräusche und Gerüche zugunsten einer im wissenschaftlichen Duktus unüblich sinnlichen Schreibweise ein.

Saidiya Hartman lehrt an der Columbia University, New York City, und publiziert vor allem über afroamerikanische Geschichte. (Foto: Uncredited/picture alliance/AP Photo)

Erst im massiven Appendix am Ende des Buches zeigt sich, auf welcher akribischen Recherchearbeit diese im Modus des Anekdotischen erzählten Geschichten tatsächlich beruhen. So entzieht sich Hartmans Werk gängigen disziplinären Zuordnungen und bewegt sich mit Leichtigkeit zwischen empirischer Forschung, fiktionalem Erzählen und theoretischer, durchaus auch selbstkritischer, Reflexion. Schließlich kann die Gefahr, dass ihre eigene Erzählung nur einen weiteren, erneut exponierenden Blick auf schwarze Frauen darstellt, nicht von der Hand gewiesen werden. Die Hoffnung, dass durch diesen spekulativen, einfühlenden Zugriff auf Archive der Gewalt und Unfreiheit eine andere Geschichte der Freiheit erzählt und die Tür zum "Archiv des Maßlosen" geöffnet werden kann, bleibt stets prekär.

Wie aber lautet diese andere Geschichte? Hartman findet in den urbanen Leben schwarzer Frauen eine Lust am Exzessiven, eine ausgelassene Verschwendung, einen "Rausch von Autonomie". Die Erwartungen bürgerlicher Ehe, traditioneller Geschlechterrollen oder 'legitimer' Verwandtschaftsverhältnisse schienen für die Frauen kaum erfüllbar, weil diese Erwartungen und Vorstellungen auf Lebensbedingungen beruhten, die Bestandteile einer weißen bürgerlichen Welt waren, die sie nicht nur ausschloss, sondern sich im Grunde über ihren Ausschluss definierte. Doch wer aus der sogenannten Normalität ausgeschlossen ist, kann das, was als Normalität gilt, womöglich aufbrechen und Raum für neue Lebens- und Beziehungsformen öffnen. Was es bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein, welche Beziehungen als Ehe gelten, wer als Familie und Verwandtschaft zählt, welche Arten des Begehrens jenseits reproduktiver Heterosexualität entstehen können - all dies sieht Hartman in den Lebensformen junger schwarzer Frauen infrage gestellt und verschoben. In dieser Hinsicht wurden schwarze Viertel zu Zufluchts- und Sehnsuchtsorten für alle, die auf der Suche nach einem anderen Leben jenseits des Normalen waren: "Harlem war zweifellos ebenso queer wie schwarz."

Saidiya Hartman: Aufsässige Leben, schöne Experimente. Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers. Claassen, Berlin 2022. 528 Seiten, 28 Euro. (Foto: N/A)

Es sind diese "Experimente" für ein freies Leben, die Hartman "schön" nennt. Die Fähigkeit, aus dem eigenen Leben ein Experiment für ein anderes, mögliches Leben zu machen, wird bei ihr zu einer ästhetischen Kategorie: "Ästhetik" bedeutet für sie, "eine Kunst aus dem Überleben zu machen". In diesem Sinn schreibt Hartman der Bühne, insbesondere dem Tanz, eine entscheidende Rolle zu - als Spiel mit der Möglichkeit, jemand ganz anderes zu sein: "Die Körper in Bewegung, intime und nahe Körper, behaupten verwegen, was sein könnte, wie schwarze Menschen vielleicht leben könnten."

So geht sie dem Leben von Tänzerinnen nach und beschreibt das Varieté als Ort der Subversion, in dem nicht nur eine eigene Art der Körperlichkeit und Sinnlichkeit, sondern auch Formen der Kollektivität entstehen können: der "Chor" oder das "Ensemble", in dem "die Grenzen des beschränkten Selbst" aufgehoben sind. Auf dieselbe Weise beschreibt Hartman die Kollektivität in einem Gefängnisaufstand, bei dem die jungen Insassinnen gegen die massive Schikane der Aufseherinnen protestierten, indem sie Feuer legten, gegen Wände schlugen — und mit ihrem Lärm, in ihrer "Bereitschaft, sich selbst zu verlieren und zu etwas Größerem zu werden", einen "Chor, ein(en) Schwarm, ein Ensemble, eine Vereinigung für gegenseitige Hilfe" bildeten.

Saidiya Hartman: Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint). Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. August Verlag, Berlin 2022. 150 Seiten, 14 Euro. (Foto: N/A)

Sofern es Hartman überhaupt um Politik geht (sie spricht eher von Rebellion, Widerständigkeit, Anarchie), scheint dies eine solche Politik des Ensembles zu sein, jenseits der politischen Organisation, jenseits der Logik von Anerkennung und Aufstieg, jenseits von Ideologie und Pamphlet. Eher um etwas, das sich in den flüchtigen Zonen der Ununterscheidbarkeit zwischen Freiheit und Not, zwischen Repression und Bruch, zwischen Gewalt und Schönheit, zwischen Potenzialität und Scheitern findet - in einer spontanen Bewegung richtungsloser Gerichtetheit: "Das Ensemble ist das Vehikel für eine andere Art von Geschichte, nicht die des großen Mannes oder des tragischen Helden, sondern eine, (...) in der die unübersetzbaren Lieder und der scheinbare Unsinn das Versprechen der Revolution einlösen."

Es ist ein großer Gewinn, dass beide Bücher - "Aufsässige Leben, Schöne Experimente" und die Sammlung "Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)" - endlich in deutscher Sprache verfügbar sind. Sie sprechen auf wunderbare Weise zueinander, treffen sich an einigen Stellen und bringen unterschiedliche Formen der Reflexion und Erzählung zusammen. Beide verdeutlichen die Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit einer Denkerin wie Saidiya Hartman, die sich nicht scheut, die Brutalität und Persistenz rassistischer Gewalt aufzuzeigen - und zugleich über sie hinauszudenken.

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