"In Birkenau bin ich Appell gestanden und hab' Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon." Von dieser Art sind die Sätze, die Ruth Klügers berühmte Lebenserinnerungen "weiter leben" ausmachen: "Schnoddrigkeit" wurde ihr immer wieder attestiert, eine Sprache fernab von jeglicher Sentimentalität oder Überhöhung, ohne Relativierungen, ohne Kompromisse.
Mit 60 Jahren hatte die am 30. Oktober 1931 als Tochter eines jüdischen Arztes in Wien geborene Germanistin plötzlich auf Deutsch zu schreiben begonnen, als amerikanische Gastprofessorin in Göttingen. Im November 1988 lag sie dort nach einem Unfall wochenlang im Krankenhaus und fing an, Notizen über ihr Leben zu machen, und man merkte dabei immer noch den alten Wiener Duktus. Als sie elf Jahre alt war, wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter von den Nationalsozialisten nach Auschwitz und in weitere Konzentrationslager deportiert. Der Vater war schon vorher nach Frankreich geflohen, ohne die Familie nachholen zu können. Auf einem der Todesmärsche kurz vor Kriegsende gelang Ruth Klüger und ihrer Mutter die Flucht, und sie emigrierten 1947 in die USA. Der Vater - "ich habe ihn mein Leben lang vermisst, diesen Mann" - war von den Nazis umgebracht worden.
Es war nur ein kleiner, zufälliger Schlenker des Schicksals, dass sie von der Gaskammer verschont blieb: Als sie sich schon in die "falsche" Schlange eingereiht hatte, riet ihr eine Unbekannte, sich um zwei Jahre älter zu machen und sich neu anzustellen. Wer so etwas erlebt hat, schreibt anders. Als "weiter leben" - man liest diesen klein und auseinander geschriebenen Titel unweigerlich mit jenem bestimmten neuen Atemholen, das einem das Leben selbst wieder bewusst macht - 1992 erschien, wurde das Buch zu einem der größten Erfolge des Jahrzehnts und machte aus dem kleinen, studentischen Göttinger Wallstein-Verlag plötzlich eine wahrnehmbare Größe.
"Schonunglosigkeit" wurde ihr zugeschrieben, vor allem wenn es um intime Beziehungen ging
Die Fama wurde noch dadurch verstärkt, Suhrkamp habe das Manuskript mit der Bemerkung abgelehnt, es entspreche nicht dem literarischen Niveau des Hauses. Tatsächlich zeigte sich Ruth Klüger bis zum Schluss verwundert über die mit rund 300 000 verkauften Exemplaren riesige Resonanz des Buchs, wenn auch mit einem charakteristischen Schwenk: Sie sagte, "dass ich vielleicht mehr und besser geschrieben hätte, wenn ich das nicht erlebt hätte und in Wien hätte bleiben können."
Auch im zweiten Band ihrer Lebenserinnerungen ("unterwegs verloren", 2008), die vor allem von ihrer akademischen Karriere in den USA handeln, zeigen sich überall die frühen Prägungen. 1952 schloss Ruth Klüger ihr Studium der Bibliothekswissenschaften und der Germanistik ab. Lange publizierte sie unter dem Namen Ruth K. Angress - in den Fünfzigerjahren war sie mit dem Historiker Werner Angress verheiratet. Sie war von 1980 bis 1986 Professorin in Princeton, danach an der University of California in Irvine.
Ruth Klüger:"Die Dorfbewohner haben uns angestarrt, als seien wir Wilde"
Ruth Klüger erzählt dem Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktages von ihren Erfahrungen als Zwangsarbeiterin in Christianstadt.
Außerdem war sie jahrelang Herausgeberin der Zeitschrift German Quarterly. Gerade, wenn es um Privates und intime Beziehungen geht, wurden ihr "Schonungslosigkeit" und "Grimmigkeit" zugeschrieben, vor allem bei den Beschreibungen der Mutter sowie des Ehemanns, von dem sie längst geschieden war und den sie "viel zu früh" geheiratet hatte. Charakteristisch ist, was sie über eine Begegnung mit Elfriede Jelinek erzählte: "Wir haben über nichts anderes als unsere Mütter gesprochen. Dabei wollte ich sie so viel fragen."
Vor dem Bundestag sagte sie 2016: "Ich bin (...) von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen"
In ihrer wissenschaftlichen Arbeit widmete sie sich, neben dem Schwerpunkt Heinrich von Kleist, hauptsächlich zwei konkreten Gruppen: Schon bei Otto Weininger würden "Juden und Frauen auf dieselbe Unterstufe gestellt". Sie wandte sich gegen den grassierenden "Holocaust-Kitsch" mit derselben Verve, mit der sie deklarierte: "Frauen lesen anders." Große Aufmerksamkeit erregte sie mit der Aufkündigung ihrer Freundschaft zu Martin Walser anlässlich seines von ihr als antisemitisch empfundenen Buches "Tod eines Kritikers". Sie hatte Walser kurz nach dem Krieg beim Studium an der Philosophisch-theologischen Hochschule in Regensburg kennengelernt. In "weiter leben" erscheint er als zwiespältiger Schöngeist, der ausgerechnet ihr erklären will, was Auschwitz war. Aber, das attestiert sie mit gemischten Gefühlen, er habe immerhin Kafka gelesen. Später sagte sie: "Ein netter Kerl, liebenswürdig und großzügig. Martin Walser steht auch für das Widersprüchliche in meiner Beziehung zu Deutschland."
Am 27. Januar 2016 hielt Ruth Klüger eine Rede im Deutschen Bundestag, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Dabei kam sie zum Schluss auf die damals akute Krise wegen der deutschen Grenzöffnung für Flüchtlinge zu sprechen und sagte: "Dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind."
Als ihre zweite Heimat empfand sie Göttingen, den Ort, an dem sie zur Schriftstellerin wurde - eine Stadt, die für sie "Gegenwart" war, "nicht Erinnerung". In der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober ist Klüger im Alter von 88 Jahren in Irvine, Kalifornien, gestorben.