"Wir werden einander viel verzeihen müssen", diesen Satz sagte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu Beginn der Pandemie. So langsam wird klar, was er damit gemeint haben könnte: Freundschaften, die im erbitterten Streit über Impfen oder Nichtimpfen erstarrt sind, werden jetzt mit sehr viel Großzügigkeit gekittet. Von der Politik Alleingelassene müssen dem Staat gegenüber gleich mehrere Augen zudrücken, um nicht zu verzweifeln. Und die Künstler? Nun ja, auch denen muss man wohl mit Nachsicht begegnen, wenn jetzt zuhauf ihre Corona-Produkte auf den Markt kommen. Sprich: Werke, denen man den Schock der Pandemie anmerkt, die gewisse Faszination des Neuen und den unbedingten Willen, der Situation etwas Kreatives abzutrotzen.
So eines ist auch Ruth Herzbergs neues Buch "Die aktuelle Situation". Sie tut damit wirklich ausschließlich das: der Misere etwas abtrotzen. Was richtig schade ist, denn die Berliner Autorin ist eigentlich originell und selbstironisch. 2021 erschien ihr Roman "Wie man mit einem Mann unglücklich wird", in dem eine Frau ständig großartigen Sex mit hippen Berlinern hat, die sich seltsamerweise nicht binden wollen. Das war direkt und komisch, obwohl man es sicher schon mal gelesen hatte, aber sie erzählte es so, dass man das nicht bemerkte. "Die aktuelle Situation" soll die Fortsetzung davon sein.
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Es ist allerdings mehr ein Corona-Tagebuch denn ein Roman geworden, angelegt um nicht den Verstand und den Humor in eben jener "aktuellen Situation" zu verlieren. "Ich fang jetzt an wieder zu schreiben", so der erste Satz des Buches, "ja, ich schreibe ab jetzt jeden Tag alles auf. Hab ja nur noch das." Klingt wie eine Drohung, und so ungefähr kommt es dann auch. Ohne Ziel und Handlungsidee streunt Ruth Herzberg durch die Berliner Tage und durch bekanntes Terrain, nur jetzt mit Virus: Als Alleinerziehende von zwei Töchtern jongliert die Ich-Erzählerin Ruth mit den neuen Herausforderungen der Kinderbespaßung, der AHA-Regeln (wer erinnert sich?) und der Frage, wann sie den Lover im Lockdown noch dazwischenschiebt. Bleibt die alte Frage, wie es gelingt, sich nicht allzu abhängig von ihm zu machen: "Es muss doch was geben zwischen Fuck und Mindfuck". Liebesgefahr droht bei Herzberg aber nicht, sie serviert "Mr X", gleich zu Beginn ab und ersetzt ihn durch einen "Großkünstler" und einen mit dem vielversprechenden Namen "der Böse", alle aber nur nutzlose Schattenfiguren. Sex hat sie immer noch, aber den findet sie irgendwann "überbewertet."
Sätze, die vor zwei Jahren jeder tiefsinnig fand, will jetzt keiner mehr hören
Abwechslung bringt auch eine kurze Reise nach Paris nicht, wo Eric Blanc, eine der wenigen Personen mit vollem Namen im Buch und Vater ihrer Töchter, lebt. Dort ändert sich die Stimmung aber auch nicht. Jetzt eben Spaziergänge in Paris. Zwischendurch Sätze, die vor zwei Jahren jeder gefühlt hat und die immer noch sehr wahr sind: "Ich hoffe, der ganze Konsum- und Kultur- und Konsumkulturmist wird nie wieder erlaubt, damit ich mir da keinen Druck mehr machen muss." Aber noch mehr Analogien, die vor zwei Jahren auch jeder tiefsinnig fand, aber jetzt sind sie es eben nicht mehr so sehr: "Das Soziale ist ein Muskel, der schnell erschlafft."
Das Problem des Romans ist, dass sich Autorin und Verlag zu sehr auf die Wirkkraft des einst neuen Phänomens Pandemie verlassen, das inzwischen allen zum Hals raushängt. Keiner begeistert sich mehr fürs Nachdenken über Distanz-Spaziergänge und das Wort "Impfe", das streng genommen nie cool war, nur geduldet, im Eifer der Impf-Euphorie. Darüber hinaus wurde vom Lektorat recht großzügig darüber hinweggesehen, dass Ruth Herzberg jenseits ihrer zweifellos oft pointierten Beobachtungen in "Die aktuelle Situation" überhaupt keine Geschichte zu erzählen hat. Über Corona müsste man cleverer schreiben können.
So sehr es zum Selbstverständnis der Literatur, der Kunst überhaupt gehört, sich immer auch mit der Welt wie sie ist auseinanderzusetzen - wann waren wir schon mal Zeugen von etwas Historischem wie dieser Pandemie? - ist offensichtlich doch alles noch zu nah, zu groß die Sehnsucht nach einer Verschnaufpause. Es mag für Bücher wie "Die aktuelle Situation" vielleicht einmal eine Zeit geben, diese ist es definitiv nicht.