"Raum" im Kino:Jacks Welt ist neun Quadratmeter groß

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Wie erklärt sich ein Kind ein Verbrechen à la Kampusch oder Fritzl? Davon erzählt der Film "Raum", in dem eine Mutter und ihr Sohn ihr Leben in einem einzigen Zimmer gestalten.

Filmkritik von Tobias Kniebe

Ein fahlblaues Stück Morgenhimmel, klein und quadratisch. Wo Schmutz und Schimmel es nicht verdunkeln, leuchtet es über Jacks Kopf. Das ist Dachfenster. "Guten Morgen, Dachfenster!", sagt Jack.

Er betrachtet die Dämmplatten an der Decke. Er betrachtet die Sperrholzwand neben dem Bett, wo seine Bilder hängen. Er streicht über die Nachttischlampe, über das Veilchen im Topf, das nicht mehr blühen will, wahrscheinlich, weil es müde ist. Er schaut unter das Bett und begrüßt die Schlange aus bunt verzierten Eierschalen, die dort wohnt. Dies ist ein besonderer Tag. "Guten Morgen, Lampe, guten Morgen, Pflanze, guten Morgen, Eierschlange!", ruft Jack. "Ich bin jetzt fünf!"

Schon unter diesen ersten Bildern liegt eine furchtbare Gewissheit. Jack und seine Mutter Joy, die ihn jetzt verschlafen und voller Liebe betrachtet, sind eingesperrt. Durch Umstände, die man noch nicht kennt, ist diese junge Frau in einer schäbigen Hütte gefangen, in der vor fünf Jahren auch ihr Sohn geboren wurde, der nie etwas anderes gesehen hat als diese vier Wände und die wenigen Dinge, die es darin gibt. Für Jack ist diese Hütte seine ganze Welt.

"Früher, bevor ich kam, hast du geweint"

Wie würde eine kindliche Fantasie, genährt von den Erzählungen einer Mutter, die das Furchtbarste von ihrem Sohn fernhalten will, aus solchen Umständen ein Weltbild formen? Das fragte sich die irisch-kanadische Schriftstellerin Emma Donoghue in ihrem Roman "Room" (deutsch: "Raum", Piper 2011). Jack ist ihr alleiniger Erzähler, und sie schenkt ihm eine simple Akzeptanz des Gegebenen. Seine Erklärungen für alles, was ihn umgibt, sind von herzzerreißender Plausibilität.

Und so klingt es jetzt auch im gleichnamigen Film, wenn Jack das, was seine Ma ihn gelehrt hat, als aufregendes Abenteuer wiedererzählt: "Früher, bevor ich kam, hast du geweint und geweint und den ganzen Tag ferngesehen, bis du ein Zombie warst. Aber dann bin ich von Himmel herabgesaust, durch Dachfenster, hinein in Raum. Und ich habe dich von innen getreten und dann bin ich herausgeschossen auf Teppich, und meine Augen waren weit offen, und du hast die Schnur geschnitten und gesagt ,Hallo Jack'."

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Allein die Szenen, in denen Jack seinen fünften Geburtstag erlebt, errichten nun ein Monument für den Heroismus seiner Mutter: Ein echter, selbstgebackener Geburtstagskuchen, wenn auch - nicht traurig sein, Schatz - ohne Kerzen; Toben, Sport, gemeinsame Dehnübungen auf neun Quadratmetern; Fernsehen, aber nur wenig; dafür Basteln mit Eierschalen und aufgebrauchten Toilettenrollen; und Schmerzen wie die von Böser Zahn - halb so schlimm, wenn wir einfach nicht daran denken.

Das Szenario von Gefangenschaft und Gewalt, in dem sich Jack und seine Ma befinden, darf nur langsam Konturen annehmen. Weil hier zunächst eine Mutter gefeiert wird, die das Grauen vollständig absorbieren kann, die in jeder Sekunde für ihren Sohn da ist; die keinerlei Legoburgen und "Star Wars"-Flottillen braucht, um den wertvollsten aller Schätze zu hüten und zu nähren: die kindliche Fantasie; und die sich mit unvorstellbarer Willenskraft über alle äußeren Umstände erhebt.

Stellt euch mal nicht so an, Mütter!

Im Englischen gibt es für das Offensichtliche, an dem alle gern vorbeischauen, den Ausdruck des "elephant in the room". Auch in "Raum", so eng es hier sonst sein mag, steht so ein Elefant: das Mutterbild. Haben europäische Reformpädagogen an diesem Drehbuch mitgeschrieben, Antikapitalisten des Kinderzimmers, vielleicht sogar im Verbund mit amerikanischen Fanatikern, die mittellosen Alleinerziehenden gern noch die letzte Sozialhilfe und Krankenversicherung streichen würden?

Selbstverständlich nicht. Aber jede Inspirationsfigur stellt auch Forderungen an die Welt. Die implizite Botschaft an alle Mütter, die in etwas angenehmeren Umständen als Jack und Joy leben und etwas mehr Ressourcen haben (also nahezu jede Mutter dieses Planeten), lässt sich kaum ignorieren: Stellt euch mal nicht so an, mit genügend Liebe geht es doch - sogar mitten in der Hölle!

Und diese Idee hat jetzt den Oscar gewonnen. Oder nein, gewonnen hat natürlich Brie Larson, die 25-jährige kalifornische Hauptdarstellerin, die Joy spielt, im Team mit ihrem wunderbaren neunjährigen Co-Star Jacob Tremblay. Schon zu Recht: Man muss hart arbeiten, um einen solchen Part zu bekommen, und vor Augenringen, fettigen Haaren und verschwitzten Tanktops darf man sich nicht fürchten. Brie Larson macht alles richtig in diesem Film, sie macht aber auch nichts wirklich Überraschendes. Was die These stützen könnte, dass immer auch die gerade virulente Figur den Oscar gewinnt.

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Wie aber ist "Raum", mit seinen doch eher abschreckenden Anklängen an die realen Fälle von Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl, so virulent geworden, so erfolgreich auf Oscar-Jagd gegangen, noch dazu als Independent-Produktion mit winzigem Budget? Das hat viel mit dem speziellen Blick Emma Donoghues zu tun, die auch das Drehbuch geschrieben hat, und mit der Regie des irischen Filmemachers Lenny Abrahamson ("Frank", "Garage"), der schon länger von Außenseitergeschichten fasziniert ist.

Man versteht es besser, wenn es in der Hütte Abend wird. Dann muss Jack mit seiner Bettdecke im Kleiderschrank verschwinden. Er soll schlafen. Dann piepst das Zahlenschloss, die schwere schalldichte Tür geht auf, und der Mann steht im Raum, den Ma nur Old Nick nennt. Schemenhaft kann Jack ihn durch die Schranktür erkennen. Er bringt ein paar Dinge zum Essen mit, die er direkt aus dem Weltraum bekommt, und dann legt er sich zu Ma ins Bett und macht merkwürdige Geräusche, die Jack nicht hören soll.

Der kindlich-märchenhafte Blick macht das Verbrechen erträglicher

"Es gibt Raum, und dahinter Weltraum mit all den Fernseh-Planeten, und dann Himmel", sagt Jack in solchen Momenten zu sich. "Pflanze ist echt, aber Bäume sind nicht echt. Spinnen sind echt und die Mücke, die einmal mein Blut gesaugt hat. Monster sind zu groß, um echt zu sein, und genauso das Meer. Fernsehmenschen sind flach und aus Farben, aber du und ich sind echt. Old Nick, ich weiß nicht, ob der echt ist. Vielleicht halb."

Erst dieser kindlich-märchenhafte Blick erlaubt es, das Verbrechen, dessen Zeuge wir werden, stark zu desexualisieren, erträglicher zu machen, die Umstände von Jacks Zeugung, die jede Mutterliebe ja auch zerstören könnten, in eine Art magische Jungfrauengeburt zu verwandeln. Old Nick wird nicht explizit in seinen bösen Momenten gezeigt, auf ihn fokussiert sich kein Hass, nicht einmal größere Aufmerksamkeit. So konnte es für "Room" einen Oscar-Auftritt geben, die ein radikal unangenehmer Film zum selben Thema, wie "Michael" von dem Österreicher Markus Schleinzer, niemals bekommen würde.

Im Schritt aus der frühen Geborgenheit heraus, näher an die Welt und die Wahrheit heran, so schrecklich sie auch sein mag, weitet der Film seinen Blick dann aus. Was keinem Kind erspart bleibt, der Verlust seiner magischen Weltsicht, wird für Jack die Initiation in einen Fluchtplan seiner Mutter, in dem er selbst die Hauptrolle spielt - und der schließlich auch die weibliche Heldenrolle wieder relativieren wird.

Eintauchen in einen Alltag des Horrors und Hoffens

Der Film nimmt Thriller-Tempo auf, man fiebert mit vor dem Sprung ins Ungewisse, doch was dann passiert, sollte man ohne Vorwissen sehen. "Raum" funktioniert nicht nur auf der unmittelbaren Ebene des Eintauchens in das Unvorstellbare, in den Alltag des Horrors und Hoffens. Er zeigt auch sehr gut, wie nah das Kino dem Unvorstellbaren überhaupt kommen kann - und wie fern es ihm schließlich doch bleiben muss.

Room , Irland/Kanada 2015 - Regie: Lenny Abrahamson. Buch: Emma Donoghue, nach ihrem gleichnamigen Roman. Kamera: Danny Cohen. Schnitt: Nathan Nugent. Mit Brie Larson, Jacob Tremblay, Joan Allen. Universal, 118 Minuten.

© SZ vom 16.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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