Der Schriftsteller Alain Mabanckou, geboren 1966 in der Republik Kongo, lebt in Paris und Los Angeles, wo er französische Literatur unterrichtet. Die meisten Bewohner seiner Heimat haben diese Metropolen nie gesehen, aus der Republik Kongo kommen kaum Touristen. Wer Kongo verlässt, tut es meistens als Auswanderer. Das kleine westafrikanische Land mit der Hauptstadt Brazzaville wird oft mit der viel größeren Demokratischen Republik Kongo verwechselt, Hauptstadt Kinshasa. In seinem Roman "Zerbrochenes Glas" - das Original erschien 2005 - schreibt Alain Mabanckou über eine fiktive Bar in Brazzaville. Die Bar heißt "Angeschrieben wird nicht", und Mabanckou erzählt die Geschichten der Stammgäste: wie deren Familien zerbrechen, weil die Frauen sich für andere Männer entscheiden, wie die Männer hinter der Bar um die Wette pinkeln, wie sie J. D. Salinger lesen und darüber nachdenken, was in den kalten Ländern mit den ganzen Enten passiert, wenn es Winter wird, und wieso in der Bibel alle Engel weiß sind.
Alain Mabanckou, eine der stärksten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur, Gewinner des Prix Renaudot 2006 und von der Académie francaise für sein Gesamtwerk mit dem Grand Prix de Littérature ausgezeichnet, verleiht in diesem Roman seinen Landsleuten eine Stimme. Er leuchtet hin, wo man sonst kaum hinschauen würde, gibt jenem Land etwas zurück, das er als Student im Alter von 22 Jahren so froh war zu verlassen. Wo Menschen leben, gibt es einen Alltag, den man literarisch schildern kann. So könnte die Botschaft dieses Buches heißen.
Wenn Mabanckou denn auf irgendeine klappentexttaugliche Botschaft aus wäre. Zum Glück hat er viel mehr zu bieten. Der kleine Kongo dient Mabanckou lediglich als Hintergrund, Brazzaville skizziert er nur. Die Bar "Angeschrieben wird nicht" könnte auch woanders stehen, Mabanckous Männer und Frauen könnten woanders trinken. Sie sind so ortlos wie Edward Hoppers "Nighthawks", sie leben in einer Phantasmagorie. Der Wirt von "Angeschrieben wird nicht" heißt Sture Schnecke, er will, dass seine Kneipe, für die er gegen eine Vereinigung ehemaliger Alkoholiker kämpfen musste, der Nachwelt in Erinnerung bleibt. Er drückt dem Ich-Erzähler, er heißt Zerbrochenes Glas, ein Heft in die Hand.
"Also hört auf mit dem Stuss"
Das Zeitalter der Geschichten, die seine bettlägerige Großmutter immer zum Besten gab, sei vorbei, diktiert der Wirt dem Zerbrochenen Glas ins Heft. Heute zähle allein das geschriebene Wort, weil es bestehen bleibe, alles Mündliche sei "nur Schall und Rauch, Wildkatzenpipi, der Wirt des Angeschrieben wird nicht kann Binsenweisheiten von der Art wenn in Afrika ein Greis stirbt, verbrennt eine Bibliothek nicht leiden, und wenn er dieses ausgelatschte Klischee hört, wird er mehr als sauer und schießt sofort zurück, hängt doch ganz davon ab, welcher Greis, also hört auf mit dem Stuss."
Sture Schnecke taucht danach nur sporadisch auf, etwa um dem Erzähler zu empfehlen, er solle sich eine nette Freundin zulegen. Aber Zerbrochenes Glas ist schon Mitte sechzig, ein geschiedener pensionierter Lehrer, seine Gedanken sind woanders. Er denkt an seine Mutter, die ihn alleine großzog, an seine Kindheit: "Ab dem zwölften Lebensjahr ist das Leben nur noch Scheiße, die Kindheit ist unser wertvollstes Gut, der ganze Rest eine Ansammlung von Dummheiten und Schweinereien."
Als Kind trieb er sich am Fischerhafen herum und brachte, wenn er Glück hatte, einen Thunfisch nach Hause, und seine Mutter sagte: "Geh nicht mehr an die Côte Sauvage, dort sterben die Leute, es gibt da böse Geister, gestern hat man am Strand zwei Kinder gefunden, ihre Bäuche waren aufgebläht, die Augen verdreht, ich will dich nicht eines Tages so vorfinden, wenn es so sein sollte, folge ich dir nach, ich kann nicht ohne dich leben, ich lebe nur noch für dich." Die Geschichte ist tragisch, seine Mutter ertrank im Fluss Tschinouka, als Zerbrochenes Glas jung war, und er vermisst sie auch im Alter so stark, dass er am Ende Selbstmord begeht, um wieder bei ihr zu sein. Aber bevor er seine letzte Flasche Rotwein leert und im vertrauten Fluss verschwindet, ganz ohne Selbstmitleid, schreibt er die Geschichten anderer Kneipengäste auf, die eins gemeinsam haben: Sie sind so unglücklich, dass sie das eigene Unglück für das größte auf Erden halten.
Da ist ein sechsfacher Vater, dessen Frau ihn eines Tages aussperrt, weil sie ihn satt hat, seinen unersättlichen sexuellen Drang, seine dreckigen Fingernägel, sein aufbrausendes Ehegattengemüt. Sie entscheidet sich für einen fetten Bibel-Guru, der im Fernsehen vor der Hölle warnt, sich gerne mit weißgekleideten Kindern umgibt und, davon ist der Verlassene überzeugt, hoch in den Loango-Bergen Sexorgien veranstaltet. Sie erzählt der Polizei, ihr Gatte bekäme jeden Tag Durchfall, ächze beim Pinkeln, schlafe mit minderjährigen Prostituierten und, das Schlimmste, "sie sagte diesen Menschen, die bei uns zu Hause waren, dass ich nachts aufstehen würde, um meine Tochter zu berühren, unsittliches Zeug".
Der Mann landet im Gefängnis, wird zweieinhalb Jahre lang systematisch vergewaltigt und muss nach seiner Entlassung Pampers tragen. "Nachdem er mit seinem Bericht zu Ende war, hob der Pampers-Typ sein Glas, um mir ,Tschau' zu sagen, leerte es in einem Zug, schenkte sich sofort nach, leerte es wieder in einem Zug, murmelte ,na gut, na gut', und als er dann endlich aufstand, konnte ich sein von vier dicken, übereinander getragenen Windeln aufgedonnertes Hinterteil aus der Nähe betrachten, ein feuchter Hintern, mit Fliegen, die ihn umschwirrten, und er hielt es für geboten, mir zu sagen, ,kümmere dich nicht um die Fliegen, Zerbrochenes Glas, das ist immer so, die Fliegen sind meine treuesten Freunde, ich verjage sie nicht einmal mehr, sie finden mich ja doch, wo ich auch bin, ich habe das Gefühl, dass es immer dieselben sind, die mir hinterherjagen'."
"Ein Notar, ein Totengräber, ein Opernhausdirigent, zum Kotzen"
Da ist die Geschichte eines Druckers, der sein Glück in Paris versucht und sich in eine weiße Französin verliebt. Der Mann spricht wie ein Gangsta-Rapper: "Tatsache ist, sobald dich andere Neger mit einer Weißen sehen, glauben sie, auch sie könnten sie flachlegen, denn sie meinen, wenn es eine normale Weiße bei geistiger Gesundheit mit einem Gorilla aus dem Kongo treibt, könne sie es ebenso gut mit dem ganzen zoologischen Garten, wenn nicht mit dem ganzen Reservat treiben." Sie heiraten und wohnen "abseits vom Pariser Geschrei, abseits vom Negerneid in all seinen Spielarten", und kurz danach betrügt ihn die Französin mit seinem eigenen Sohn aus dem früheren Leben.
Mabanckou spielt mit postkolonialen Klischees, auf eine derbe Art, das tut er auch in seinen Romanen "African Psycho" (2003), "Stachelschweins Memoiren" (2006) und "Black Bazaar" (2009). Die beiden letzten sind bereits bei Liebeskind erschienen, erstaunlich, dass Mabanckous Erfolgsroman "Zerbrochenes Glas" erst jetzt in Deutsche übersetzt wurde. Das Schönste an diesem Buch ist nicht das Spiel mit Klischees oder Mabanckous unaufdringlicher Humor oder seine Vergleiche. (Über einen Mann namens Casimir, der Lackschuhe und schwarzes Sakko trägt, heißt es etwa, er sei "ausstaffiert wie ein Notar, ein Totengräber, ein Opernhausdirigent, zum Kotzen".) Das Schönste ist, dass Mabanckou all seine Figuren mit dem Respekt und der Sorgfalt eines Puppenschauspielers behandelt. Seine behutsame Hand packt sie aus, lässt sie ins Leben zappeln und packt sie wieder weg.
Zerbochenes Glas ist eine Puppe, die ihr eigenes Leben entwickelt. Er fällt tief, aber in seinem Notizheft schreibt er vom Paradies. "Zum ersten Mal wird der liebe Gott ein Glas, das zerbrochen ist, reparieret haben (. . .) und wenn mir dort oben irgendwelche böswilligen Engel irgendeinen Scheiß erzählen, um mich daran zu hindern, durch die große Pforte zu schreiten, dann, glaube mir, dann komme ich trotzdem rein, und zwar durchs Fenster."
Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, München 2013. 222 Seiten, 18,90 Euro.