Ein interessanter Fall des Aufeinandertreffens von Politik, Philologie und Geschichtsphilosophie ist zu vermelden. In seinem Zentrum steht nicht zufällig der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, der 1954 in Wien geboren wurde. Sein politisches Projekt ist seit geraumer Zeit die Abschaffung der europäischen Nationalstaaten zugunsten einer europäischen Republik, die aus dem Zusammenschluss der Regionen entstehen soll. Und weil er, wie schon an seinen frühen Romanen seit "Sinnliche Gewissheit" (1988) abzulesen ist, ein leidenschaftlicher Hegel-Leser ist, macht er den Nationalstaaten als der Quelle allen europäischen Übels mit dem Instrumentarium der Geschichtsphilosophie den Prozess. Sie seien ohnehin durch die Globalisierung zum Verschwinden verurteilt, nun komme es darauf an, zu stürzen, was ohnehin zugrunde geht.
Die Philologie hat der studierte Germanist Robert Menasse ins Boot geholt, weil er um die Macht der Zitate von Autoritätsfiguren im politischen Diskurs weiß. So hat er seit dem 24. März 2013, als er gemeinsam mit der Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung Ulrike Guérot in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung das Manifest "Es lebe die europäische Republik!" veröffentlichte, die Hegel-Zitate seiner politischen Essays durch Zitate des Europapolitikers Walter Hallstein ergänzt: "Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!" "Was immer wir in den neu geschaffenen europäischen Institutionen beschließen und durchzusetzen versuchen, Ziel ist und bleibt die Organisation eines nachnationalen Europas." "Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung der Nationalstaaten."
"Nicht zulässig - außer man ist Dichter"
In den Schriften und Reden Walter Hallsteins lassen sich diese Sätze nicht finden. Das hatte in einem Spiegel-Essay im Oktober 2017 der Historiker Heinrich August Winkler konstatiert und Menasse und Guérot aufgefordert, entweder ihre Quellen zu nennen oder auf die Inanspruchnahme Hallsteins zu verzichten. Eine Antwort erhielt er nicht. Nun hat die Zeitung Welt am Sonntag nachgehakt und Robert Menasse zu einer Stellungnahme bewegt. Sie lief darauf hinaus, dass die Philologie sich nicht beschweren soll, wenn sie von der Geschichtsphilosophie eingespannt wird: "Die Quelle (Römische Rede) ist korrekt. Die Wahrheit ist belegbar. Die These ist fruchtbar. Was fehlt, ist das Geringste: das Wortwörtliche."
Die Souveränität der Nationalstaaten ist von der Globalisierung gerade nicht gebrochen worden, das zeigt der Zustand der Europäischen Union, einschließlich des Brexit. Und wer in Deutschland 2018 das CSU-Theater erlebt hat, wird skeptisch bleiben gegenüber einem Europa der Regionen. Aber ein alteuropäischer Traditionsbestand besteht alle Krisen unbeschadet: die Souveränität der Dichter. Seine Form des Zitierens, sagte Menasse, sei "nicht zulässig - außer man ist Dichter und eben nicht Wissenschaftler oder Journalist". Auf den Mitstreiter Walter Hallstein wird er dennoch verzichten müssen.