Richard-Avedon-Ausstellung in New York:Er wollte bleiben

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"Ich wollte schauen, ob ich das Gruppenporträt neu erfinden kann", hat Richard Avedon über seine "Murals" gesagt. Hier ein nicht verwendetes Motiv aus "Andy Warhol and members of The Factory" (9. Oktober 1969), Silbergelatine-Druck. (Foto: The Richard Avedon Foundation)

Ein Raum, drei Bilder. Das Metropolitan Museum feiert den 100. Geburtstag des Fotografen Richard Avedon mit einer überraschend kleinen Ausstellung. Aber was für einer.

Von Christian Zaschke

Seit Wochen angekündigt, die große Richard-Avedon-Ausstellung im Metropolitan Museum, Fifth Avenue, New York. Seit Wochen Vorfreude. Also nichts wie hin am ersten Tag, rein durch den erhabenen Haupteingang und gleich weiter, die majestätische Haupttreppe erklimmend, je zwei Stufen auf einmal. Dann scharf links, rund 100 Meter, in einem dem Museum gerade so angemessenen Tempo, und schließlich ausscheren aus dem Besucherstrom nach rechts.

Fotoausstellungen im Metropolitan Museum finden immer an derselben Stelle statt, in einem großen, sehr hohen Raum, rechts des Ganges gelegen, und einigen kleineren Räumen gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges. Klar, gut für den Rhythmus, dieser Wechsel von groß und klein. Bewährte Technik: erst einmal einen raschen Überblick verschaffen. Dann Bild für Bild studieren.

Der erste Raum ist rasch durchquert, hier hängen drei Riesenbilder, die sogenannten Murals, dazu fünf kleinere Gruppenbilder, sowie drei weitere, belanglose Fotografien. Außerdem gibt es noch zwei Schaukästen mit Outtakes, Aufnahmen, mit denen Avedon bei den Arbeiten an den Murals nicht zufrieden war. Weiter also zu den kleineren Räumen, denn da muss ja noch mehr kommen. Schon allein, weil sie im Met wohl kaum eine Avedon-Ausstellung ohne das Bild von Nastassja Kinski gemacht haben. Geht ja nicht. Alle wollen immer das Bild von der Kinski sehen.

In den kleineren Räumen gegenüber sind derzeit allerdings Gemälde aus Dänemark zu sehen. Sieht alles gut aus, es geht um "Identität und Ort in der dänischen Kunst des 19. Jahrhunderts", und man muss das Met dafür lieben, dass es solche sehr spezialistischen Ausstellungen organisiert, aber wo ist jetzt der Rest vom Avedon? Zurück in den großen Raum. Einen Ordner gefragt. "Avedon?", sagt der Ordner, er spricht den Namen französisch aus, obwohl Avedon hier in New York als Kind russisch-jüdischer Immigranten geboren wurde, 1923 auf der Upper West Side. Seinen 100. Geburtstag zu feiern, war die Idee hinter der Ausstellung. "Avedon?", sagt der Ordner und zeigt in den Raum: "Das ist alles."

Das ist alles? Dann noch mal ganz langsam und ganz von vorn.

Seine ersten Fotografien hat Richard Avedon 1944 im Alter von 21 Jahren im Magazin Harper's Bazaar veröffentlicht. Die folgenden 60 Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 2004 war er immer gefragt und immer gut im Geschäft. Aber es nagte in diesen 60 Jahren auch immer das Gefühl an ihm, dass er als Modefotograf wahrgenommen wurde, oder, schlimmer: als Promi-Fotograf. Nicht als der Großkünstler, den er in sich selbst sah. Der Autor Philip Gefter hat das in einer 2020 erschienenen Biografie Avedons trefflich nachgezeichnet. Gefter schreibt, Avedon als Fotografen der Prominenten abzutun, sei eine "intellektuelle Beleidigung".

Dass in dieser Aussage viel Wahres steckt, zeigt die, zugegeben, sehr übersichtliche, aber äußerst aussagekräftige aktuelle Ausstellung im Metropolitan Museum. Sie erzählt auf kleinem Raum die große Geschichte des Ringens des Künstlers mit sich selbst. Sie erzählt von der Suche nach einer neuen Ausdrucksform, und vom Versuch, etwas zu erschaffen, das womöglich bleibt.

Der Erfolg seiner berühmten Freunde stürzte Avedon in eine jahrelange Schaffenskrise

Avedon hatte früh viel Geld verdient. Er war flamboyant, er liebte den Luxus, und wenn er auf längere Flugreisen ging, saß er in der ersten Klasse, während seine Assistentinnen und Assistenten hinten in der Holzklasse hockten. Auf längere Flugreisen ging er regelmäßig, denn wenn er zum Beispiel in Europa eine Ausstellung entdeckte, die er interessant fand, flog er mehrmals hin. Außerdem wurde er beständig weltweit gebucht.

Doch da gab es dieses Problem: Avedon hatte all die berühmten Freunde. Leonard Bernstein. Harold Brodkey. Mike Nichols. Sidney Lumet. Truman Capote. Um nur ein paar wenige seiner engsten Vertrauten zu nennen. Von Mitte der Sechzigerjahre an eilten diese von Erfolg zu Erfolg. Avedon musste erleben, wie Capotes Buch "Kaltblütig" ein formidabler Bestseller wurde, den die Kritik als literarischen Meilenstein pries. Als etwas, das bleibt. Das hätte ihn freuen können, aber Avedon maß sich an seinen Freunden, er verglich sich. Bernstein gewann zu der Zeit einen Grammy, Nichols wurde für den Oscar nominiert. Die Folge war, dass Avedon eine schöpferische Krise erlebte. Jahrelang.

Richard Avedon 1994 in einer Werkschau in der Kölner Kunsthalle. Jetzt feiert das New Yorker Metropolitan Museum seinen 100. Geburtstag mit einer Ausstellung. (Foto: Roland Scheidemann/dpa)

Das sollte man wissen, wenn man Raum 851 im Metropolitan Museum betritt. Die kleineren Bilder sind unwichtig, bedeutsam sind allein die "Murals", fast drei Meter hoch, bis zu zehn Meter breit. Sie bestehen aus mehreren Bögen, die Avedon zu größeren Gebilden zusammenstellte. Zwischen 1969 und 1971 schuf er vier dieser Riesenwerke, drei sind nun im Met zu sehen. Das war für das Museum ohne größeren Aufwand zu organisieren, weil Avedon sie dem Met im Jahr 2002 geschenkt hatte. Damals sagte er: "Ich wollte schauen, ob ich das Gruppenporträt neu erfinden kann ... von den holländischen Malern über Fantin-Latour über Irving Penn bis zur Fußballmannschaft der High School."

Das erste Projekt der Reihe widmete er den "Chicago Seven", einer Gruppe politischer Aktivisten, die 1968 beim Parteitag der Demokraten Antikriegsproteste organisiert hatten. Die Polizei ging brutal dagegen vor, und die Aktivisten wurden wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt. Für Avedon waren sie Helden, die sich für den Frieden engagierten. Auf seinem überlebensgroßen Bild wirken sie wie freundliche mittelalte Männer, die man, wie es in einem Ausstellungskatalog von 2012 hieß, im Waschsalon oder im Lehrerzimmer treffen könnte.

Sein nächstes Projekt war das genaue Gegenteil. Avedon lud Andy Warhol und Mitglieder von dessen Factory ein. Wieder und wieder pilgerte die Gruppe in wechselnder Besetzung in Avedons Studio, schließlich hatte Avedon mehr als 200 Aufnahmen erstellt, mit einer Deardorff-Großformatkamera, die er eigens für das Projekt gekauft hatte. Er wollte sich in jeder Hinsicht neu erfinden, auch technisch.

Als hätten sich die Figuren auf einer griechischen Vase aus der Rundung in die Horizontale bewegt

Eineinhalb Jahre lang schob er die Aufnahmen hin und her, bis er sich für die finale Komposition entschied. Sie heißt "Andy Warhol and Members of the Factory, New York, October 30, 1969". Neben Warhol sind allerlei andere Künstler zu sehen, einige von ihnen nackt, darunter Joe Dallesandro, dessen (bekleidete) Körpermitte später das Cover des Rolling-Stones-Albums "Sticky Fingers" zierte, und Candy Darling, eine Transgender-Frau, deren männliche Genitalien im Gegensatz zu ihrer ansonsten sehr weiblichen Erscheinung stehen, was in Teilen der USA auch heute nicht weniger Empörung erregen würde als damals.

Maria Morris Hambourg, ehemals Foto-Kuratorin am Met, sagte 2002, das Bild wirke, als hätten sich die Figuren auf einer griechischen Vase gesammelt aus der Rundung in die Horizontale bewegt und kurz innegehalten, um sich der Kamera zu präsentieren.

Das dritte Großbild heißt "The Mission Council, Saigon, April 27, 1971". Es handelt sich um die verantwortlichen US-Strategen, die während des Vietnamkriegs in Saigon saßen. Während Avedon sich mit den Mitgliedern der Factory monatelang Zeit lassen konnte, hatte er in Saigon nur wenige Minuten. Zu sehen sind sehr angezogene Männer, einer in Uniform, der Rest im Anzug, alle blicken ernst. Dieses Bild hängt exakt gegenüber der Aufnahme von den Mitgliedern der Factory, und man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was für ein herrlicher Dialog da entsteht.

Im Grunde hätte es gereicht, nur diese beiden Murals zu zeigen. Man kann sich eine ganze Stunde zwischen die beiden Werke stellen, nach rechts blicken, wieder nach links, und immer so weiter, ohne dass es langweilig würde. Im Gegenteil, je länger man das tut, desto berauschender die Wirkung, und man erkennt Avedon als den vielleicht nicht subtilen, aber doch tiefgründigen Meister, der er war.

Aber wie die Kunstwelt nun einmal so ist, hat sie Avedon die von ihm ersehnte Anerkennung als Künstler zu seinen Lebzeiten größtenteils vorenthalten. Philip Gefters erwähnte Biografie von 2020 ist vielleicht ein Schritt auf dem Weg, das zu ändern.

Das berühmte Foto von Nastassja Kinski schuf Avedon übrigens erst zehn Jahre später, 1981 in Los Angeles, und es passt tatsächlich kein bisschen in diese Ausstellung im Metropolitan Museum. Es zeigt eine nackte Kinski in perfekter Symbiose mit einer Boa Constrictor. Die Schlange schiebt der Schauspielerin die Zunge ins Ohr, was diese ungerührt hinnimmt. Es ist ein sagenhaft gutes Bild, oder, wie die Kunstwelt wohl sagen würde: typisch Promi-Fotograf.

Richard Avedon: Murals. Metropolitan Museum of Art. 1000 Fifth Avenue. New York. Bis 1. Oktober 2023.

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