Reich-Ranicki zum 90. Geburtstag:Das Glück des klaren Urteils

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Er war nie der große Zerreißer, als der er galt - doch bei diesem Mann weiß der Leser, woran er ist: Marcel Reich-Ranicki und das Publikum.

Thomas Steinfeld

Bunt sind die Gegenstände, mit denen sich die Kolumne "Fragen Sie Reich-Ranicki" der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beschäftigt. Was von Peter Huchel oder von Rainer Maria Rilke zu halten sei, ob es zu wenig Pathos in der Literatur gebe, oder was es zu Thomas Bernhard zu sagen gebe - auf solche Probleme reagiert Marcel Reich-Ranicki in dieser Rubrik. Dabei wird er selten scharf, oft ist er sogar vorsichtig, immer lässt er den Leser, manchmal nur ein wenig, aber doch: an Wissen bereichert zurück.

Die Beliebtheit, die Marcel Reich-Ranicki bei einem großen Publikum genoss und immer noch genießt, ist eng mit seiner Rolle als Lehrer verknüpft. (Foto: dpa)

Diese Kolumne lebt also davon, dass der Literaturkritiker immer auch ein Lehrer ist, was für Marcel Reich-Ranicki mehr gilt als für irgendeinen anderen Kritiker deutscher Sprache. Anders gesagt: Die Beliebtheit, die Marcel Reich-Ranicki bei einem großen Publikum genoss und immer noch genießt, ist eng mit seiner Rolle als Lehrer verknüpft.

Die Autorität

Und so wie ein Pädagoge viele Dinge einfacher macht, als sie tatsächlich sind, wie er eine Spannung oder eine Pointe sucht, weil das, was er zu sagen hat, dann leichter haften bleibt in den Köpfen der Schüler, so findet das Apodiktische im Urteil von Marcel Reich-Ranicki in dieser Kolumne seinen rechten Ort.

Die Leute verlangten nach einer Autorität, heißt es oft über Marcel Reich-Ranicki, und er gebe sie ihnen, mit solcher Inbrunst, dass ihm das entschiedene Urteil sogar in Stimme und Mimik eingezogen sei. Aber diese kleine Theorie der Verschwörung zwischen Publikum und Kritiker (auch wider alle anderen Kritiker) enthält höchstens die halbe Wahrheit.

Die andere Hälfte besteht darin, dass die Literatur, wie alle Kunst, eine Sphäre der Komplexität und der Zweideutigkeit ist. Darin ist ihre Freiheit begründet und auch das Glück, das sie zu geben vermag. Dennoch gibt es für viele Menschen, womöglich für die meisten (und auch für die kühnsten in ihren schwächeren Stunden), einen Punkt, an dem sich die Freiheit zuerst in eine Unsicherheit und zuletzt in eine Qual verwandelt. Jenseits dieses Punktes verlangen sie nach einer glücklichen Begrenzung ihrer Wahrnehmung, nach einem Richter.

Marcel Reich-Ranicki ist dieser Richter, und er nimmt diese Aufgabe in der bestmöglichen Weise wahr: mit seiner Vorliebe für realistische Prosa, mit seiner Neigung zu sinnlichen Stoffen, mit seiner Treue zum Bewährten.

Die Entschiedenheit

Und gewiss, es ist unter solchen Voraussetzungen nicht zu vermeiden, dass man Friedrich Hölderlin etwas nimmt, um es Javier Marías oder Birgit Vanderbeke zu geben. Aber es ehrt Marcel Reich-Ranicki und zeichnet ihn aus, dass er den Punkt wahrnimmt, an dem Freiheit und Entschiedenheit gegeneinander zu laufen beginnen. Und nicht immer entscheidet er sich, so etwa bei Thomas Bernhard, über dessen Dichtung er sagt, sie sei ihm stets unheimlich und beklemmend gewesen. Nie habe er einen rechten Zugang gefunden. Am Ende erweist sich, dass der Übergang zum Apodiktischen oft sehr spät vollzogen wird.

Das ist umso erstaunlicher, je enger die Bindung zwischen Publikum und Kritiker wird und je größer die mediale Macht ist, über die der Kritiker verfügt. Es gibt eine ganze Reihe von Schriftstellern, die diese Macht schmerzlich zu spüren bekamen, und umso heftiger, je unberechenbarer sie zu sein schien.

Und doch: Der große Zerreißer, als den Marcel Reich-Ranicki im August 1995 das Titelbild des Spiegel zeigte, ist er nie gewesen. Dazu hängt er viel zu sehr an seiner Verpflichtung zum Lehren, einer Verpflichtung übrigens, die ihn in späteren Jahren weit über den Kritiker hinauswachsen ließ - hin zu einer Personifikation der literarischen Tradition, die man zum Beispiel fragen kann, was man denn von einer Zwittergestalt wie Klabund halten solle.

Und noch etwas verhindert den endgültigen Übergang ins Apodiktische: der Umstand nämlich, dass Marcel Reich-Ranicki vermutlich schon mit seiner Verwandlung in eine Gestalt des Fernsehens, spätestens aber mit dem Erscheinen seiner Autobiographie (1999) selbst zu einer gleichsam literarischen Figur wurde - zu einer Gestalt also, die einer ähnlichen Dialektik von Freiheit und Entschiedenheit unterworfen wird wie die von ihr rezensierten Werke.

Im Spekulieren über Marcel Reich-Ranicki aber fanden Publikum und Kritiker endgültig zusammen.

© SZ vom 02.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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