Es ist der 8. Mai 2019 im Büro einer deutschen Werbeagentur. In einer Woche wird das neue Rammstein-Album erscheinen, das erste seit zehn Jahren. Und das erste seit jener jüngsten Single, in der die Bandmitglieder sich als KZ-Häftlinge zeigten. Rammstein geben aber keine Interviews, das neue Album wird vorab ausschließlich in persona vorgespielt, dazu gibt es Kaffee und Waldmeisterbrause. Die Brause schmeckt ein bisschen nach Würstchen.
Waldmeister und Würstchen sind aber gute Stichworte, wenn man die Essenz von Rammstein beschreiben will. Rammstein haben ein Management hinter sich, das allen Journalisten bei Todesstrafe verbietet, sich vor Ablauf des Embargos zu äußern ("Hier unterschreiben, 50 000 kostet das, wenn Sie doch früher drüber schreiben, haha!"). Es gibt angeblich auch eine schwarze Liste, auf die Personen kommen, die böse waren oder heimlich negative Sätze über die Band schreiben. ("Schwarrrrrrze Liste, ich schieb dich drrrrrauf auf meine schwarrrrrrrze Liste, und setz mich auf dich auf der schwarrrrrrzen Liste. . .") Auf der Plusseite verschickt Rammstein an ihnen freundlich gesinnte Journalisten Weihnachtskarten.
Wie gerne hätte man so eine Weihnachtskarte! Oder Aufmerksamkeit! Aber man kann nicht beides haben, die Frage ist also, welchen Pfad man einschlagen will. Schreibt man jetzt "Rammstein sind dumme Nazis" oder "Leute, die Rammstein nicht verstehen, sind dumme Nazis"? Weihnachtskarte oder schwarze Liste? Dabei ist das nicht die eigentlich interessante Frage. Das Spiel mit der Naziästhetik gehört zum symbolischen Grundkapital des Punk, aus dem die Band kommt. Punk ist die Haltung des absoluten Dagegenseins. Die eigentlich interessante Frage ist: Wie kann man das als Band aufrechterhalten, wenn die liberale Gesellschaft nur noch wenig Reibungsfläche bietet? Die Antwort von Rammstein war zunächst: Durch Strenge und Monumentalität. Aber wie reagiert eine solche Band ästhetisch darauf, wenn rechtsradikales Denken wieder zu einer politischen Kraft wird?
Mit radikaler Verwirrung. Rammstein mussten gar nicht auf die neue politische Lage reagieren in dem Sinn, dass sie sich neu erfinden mussten, um nicht ihrerseits nazimäßig rüberzukommen. Sie verstärken einfach nur, was sie längst machen: nationalen Steam-Punk-Karneval.
Das selbstbetitelte Album beginnt mit ihrem Deutschlandlied. Darauf folgt "Radio", eine mit hübscher Keyboardmelodie aufgemachte Nostalgie-Orgie, in dem Sänger Till Lindemann "verbotenem Liedgut" lauscht, "jede Nacht ein bisschen froh / mein Ohr ganz nah am Weltempfänger". Nach einem Schlager-Refrain muss er sich "leise in die Hände singen". Im Video sehen wir eine Band im Zwanziger-Jahre-Look, Lindemann mit comichaft geschminkten Lippen. Ihr Song löst Anarchie aus im Land, so ähnlich wie Grenouilles perfektes Parfum. Eine Marianne mit an Femen-Aktivistinnen erinnerndem Slogan (pro Radio!) steigt auf die Barrikaden. Als die Staatsmacht in Form von stramm maschierenden Uniformierten eingreifen will, verwandelt sich die Band in Hologramme, durch die der Schlagstock wirkungslos hindurchsaust. Auch so kann man subversiv Gewalt ins Leere laufen lassen. Stattdessen beginnen die Uniformierten zackig-sexy zu tanzen. In "Ausländer" reihen Rammstein Phrasen wie "Ich bin Ausländer / Du kommen mit mich wir machen gut".
Es gibt viel Fanservice auf dem Album. Einen Song über Tattoos ("Zeig mir deins ich zeig dir meins!"), einen über Inzest (eventuell) und Puppen, denen der Kopf abgerissen wird. Es gibt mit "Diamant" einen sentimentalen Lovesong, "Zeig dich!" ist ein Anklagegesang an Gott den Allmächtigen, dessen Text aus Alliterationen mit V besteht. Ein Kirchenchor leitet ihn ein, es röhrt "Verheißung! Vermehren! Verbrennen! Verstecken!" dann kommen die richtig finsteren Vs: "Verhütung! Verboten! Vergnügen! Verpönt!" und, sonst wär's nicht Rammstein, "Aus Versehen / Sich an Kindern vergehen!"
Rammstein waren dabei nie ironisch. Nie uneigentlich. Eher dadaistisch. Sie setzen auf Sinnlichkeit: Ihre Pyroshows sind auf Entertainment und Überwältigung angelegt. Insofern ist ihr Karneval - wie der wirkliche Karneval - auch nicht ironisch, sondern stellt die Welt auf den Kopf, und das zum Teil brutal und entgrenzend.
Es geht auf "Rammstein" viel darum, das zu zerstören, was man liebt. Ein kleines Mädchen wird vom "Hallomann" am Straßenrand aufgelesen - ob das wohl gut geht? In "Sex" geht es gar nicht um Sex, sondern um einen Besuch beim Frauenarzt: "Ich schau dir tief in das Geschlecht" tönt es im ersten Teil, dann im zweiten später, "Ich schau dir tiefer ins Geschlecht!". Folgeuntersuchung. Nun kann man in Penisse nicht ohne weiteres reinschauen, also geht es offenbar um Krebsvorsorge. Sehr löblich. Ist Rammsteins neues Album in Wahrheit also ein feministisches Meisterwerk? Nimmt die Band sich endlich einmal der weiblichen Sorgen an?
Rammstein wirken auf die Debatte wie plötzliche Ablenkungen auf die Kreativität oder ein Schrecken auf den Schluckauf: Die Gedankenknoten werden durch eine Überdosis an Zeichen, an griffig rhythmisiertem akustischem, visuellem und symbolischem Lärm gelöst.
Ein Grund für all die Aggressionen im politischen Diskurs ist auch, dass rational, moralisch und reflektiert und tolerant zu sein, seine irrationalen Ängste zu kontrollieren und sich nie von Vorurteilen mitreißen zu lassen - dass das alles auch Energie kostet. Und wie man nach dem Essen auch mal rülpsen muss, entstehen auch bei diesem Zivilisationsprozess Gase. Rammstein sind ein Rülps Germanias, und zugleich so was wie die Medizin: weil man im Gewand ihres Karnevals die ganzen destruktiven Reflexe rauslassen kann, ohne sich unmöglich zu machen.
Man könnte das Deutschlandlied von Rammstein Natascha Süder-Happelmann gegenüberstellen, die gerade den deutschen Pavillion auf der Venedig-Biennale bespielt. Sie unterwandert die Identitätsdebatten, indem sie sich als sogenannte Migrationshintergründige namentlich eindeutscht, nicht spricht, einen Steinkopf verpasst und der faschistischen Ästhetik des Ausstellungsgebäudes Steine und Beton entgegenstellt und dystoptisch aufläd. Rammstein produzieren so etwas wie das Gegenstück dazu, indem sie sich selbst in eine biodeutsche Volksseele imaginieren, sich mit ihr identifizieren und daran dann eine brutale Psychoanalyse durchführen, die all das Halbverdaute hochspült. Bei ihnen wird das Monumentale zu einem überwältigenden, widersprüchlichen Strom aus Geschichtsikonographie und Popzeichen verflüssigt. Gangsta-Rap-Posen treffen auf Szenen im Look deutscher DDR- und Nazikostümfilme und eine schwarze Germania (im Video zu "Deutschland" Ruby Commey als paradoxe Allegorie mit Science-Fiction-Kräften). Eine quietschbunte Kloake schmutziger deutscher Wünsche, Albträume und Ängste.
Dadaistische Wortspiele mit der Silbe "über" führen Rammsteins eigene Brachialität ebenso ad absurdum wie den deutschen Narzissmus zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn. Unausrottbar bleibt er trotzdem, das weiß die Band. Nachdem die destruktive Orgie diesen Planeten rangenommen hat, fliegt das deutsche Gruselkabinett im Video in neue Galaxien.
Angesichts des oft leichtfertigen oder unbedarften Umgangs mit dem Holocaust in Songs und Filmen, irritiert es erst einmal, wenn die Band sich als jüdische KZ-Insassen verkleiden, die auf ihre Hinrichtung durch den Strang warten. Aber die Band verkörpert eben alle Deutschen Pathologien in diesem Video, Lindemann tritt auch als Ulrike Meinhof auf. Es ist in dieser Szene gerade die übergriffige Identifikation mit den Opfern, die aufs Korn genommen wird. Und dass ein Galgen gezeigt wird, ist nicht etwa eine bizarre "Romantisierung" der Vernichtung, sondern kann auch als subtiles Zeichen der moralischen Sensibilität mitten im vulgären Bilderreigen verstanden werden: Das Tabu der Gaskammer bleibt unangetastet.
Wer die Ästhetik von Rammstein als zynisches Marketing einstuft, das sich um gedankliche Konsistenz, Missverständnisse und Konsequenzen nicht schert, sondern einfach mit der größtmöglichen Provokation die größtmögliche Aufmerksamkeit generiert, der verkennt, dass die komplexe Dialektik von Gegenkultur und Affirmation, von Revolution und Warenhaftigkeit der Kern von Pop sind. Selbst wenn Rammstein eine zynische Marketingmaschine wären, bliebe immer noch die Frage: Was sind sie außerdem? Und solange man darauf nicht "Nichts!" antworten kann, bleiben sie interessant.