Rainer Forst: "Die noumenale Republik":Gegen das ewige Eigeninteresse

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"Es wäre gut, zumindest in Europa damit anzufangen und die entsprechenden 'Parteienfamilien' zu echten transnationalen Parteien zu formen, die das, was Gemeinwohl heißt, neu bestimmen." - Rainer Forst. (Foto: Imago/Metodi Popow)

Der Frankfurter Politiktheoretiker Rainer Forst erkundet, was es heißt, wirklich solidarisch zu sein.

Von Thomas Meyer

Bücher, die sich mit Fragen von Demokratie und Macht und dem Problem der Begründung von Handlungen auseinandersetzen und vor Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine geschrieben wurden, lesen sich nunmehr anders. Das gilt auch für den neuesten Sammelband des 57-jährigen Frankfurter Philosophie-Professors und Politiktheoretikers Rainer Forst, seines Zeichens prominentester Habermas-Schüler der dritten oder vierten (je nachdem wie man zählt) Generation der Frankfurter Schule. Die 16 Essays bieten Auseinandersetzungen mit den Ansätzen verschiedener Ausprägungen der Kritischen Theorie sowie Weiterführungen zu einer Theorie der Gerechtigkeit und der daraus entstehenden Rechtfertigungsprobleme.

Wollte man Forsts Anliegen mit einem Schlagwort versehen, dann käme "Dialektik der Demokratie" in Frage. Dazu gehört die Analyse der Krisensymptome gegenwärtiger Demokratien und ihrer, wie Forst schreibt, "strukturellen" und "normativen" Probleme. Die Zukunft der Demokratie hängt seines Erachtens davon ab, dass sie ihre soziale Gestaltungsmacht zurückerlangt und Politik sich nicht nur darauf beschränkt, einen nationalen Platz an der Sonne der globalen Ökonomie zu ergattern: "Progressive Politik muss Wege finden, transnationale demokratische Macht zu entfalten, und es wäre gut, zumindest in Europa damit anzufangen und die entsprechenden 'Parteienfamilien' zu echten transnationalen Parteien zu formen, die das, was Gemeinwohl heißt, neu bestimmen."

Immer geht es darum, Machtverhältnisse in Rechtfertigungsverhältnisse zu verwandeln

Emphatische Aussagen wie diese stehen bei Forst allerdings nicht im luftleeren Raum, er versucht vielmehr seit nun gut 20 Jahren die Spannungen zwischen Individuen und Kollektiven politiktheoretisch aufzulösen. Sein großes Anliegen ist dabei, Machtverhältnisse in Rechtfertigungsverhältnisse zu verwandeln. Dazu dient ihm ein ebenso gehaltvoller, wie vielfach kritisierter - weil moralisch sehr voraussetzungsreicher - Begriff der "Normativität": "Es ist und bleibt Aufgabe der Demokratie als Praxis kollektiver Rechtfertigung, die Kräfte und Machtverhältnisse zu zivilisieren und zu transformieren, die willkürlich über das Leben der Menschen bestimmen oder die zumindest nicht ausreichend gemeinwohlverträglich kontrolliert werden. Nur wenn diese Transformation und Kontrolle gelingt, erfüllt die Demokratie ihren Zweck der Gerechtigkeit."

Rainer Forst: Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 360 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Begriffe wie Solidarität, Toleranz, Gerechtigkeit oder Freiheit, so Forst, müssten, um ihre stabilisierende und fordernde Rolle in der Demokratie spielen zu können, zunächst neutralisiert werden. Das macht Forsts Sache natürlich erst einmal abstrakt und theoretisch, genau darum geht es allerdings: Die Begriffe müssen für ihn quasi geschont werden, um bei ihrer Verwendung dann tatsächlich wirksam werden zu können.

Er argumentiert damit letztlich gegen eine "Promiskuität" der Begriffe. Bevor so geläuterte Begriffe in die "Dialektik der Demokratie" eingespeist werden können, benötigt man laut Forst also jeweils einen Idealtypus und eine Idee davon, ob und wie er sich im Diskurs konkret bewährt. Forsts methodische Vorsicht führt dabei nicht zum Ideologieverdacht gegenüber der moralphilosophischen Überlieferung, sie ermöglicht vielmehr deren Wiederverwendung, weil sie aufs Konkrete zielt. Besonders eindrücklich wird die Leistungsfähigkeit dieses Konstrukts im Buch bei der Analyse der Menschenrechte belegt.

Der sich klar auf die Seite der "Solidarität als gemeinsamer Aktion" stellende Philosoph, schreibt: "Das allgemeine Konzept der Solidarität beinhaltet keine bestimmte Maßvorgabe in Bezug auf das, was Solidarität in konkreten Kontexten erfordert. Dies wird durch die verschiedenen Konzeptionen der kollektiven Verbundenheit bestimmt, die besondere kontextuelle Formen der Solidarität ausbilden."

Damit wird der selbstverordnete Boden der "Neutralität" bei der Begriffsbestimmung nicht verlassen. Und doch ist mit "Verbundenheit" - Forst bestimmt sie "als die motivierende Kraft", die aus sich heraus "zu bestimmten Handlungen jenseits des eng verstandenen Eigeninteresses anhalten" kann - ein Begriff eingefügt, dessen normative Aufladung nicht geleugnet werden kann. Zumindest könnte man so Forsts "Fazit" verstehen, dass "im kantischen Verständnis Solidarität nur dann eine Tugend ist, wenn sie auf praktischer Vernunft beruht, die sich auf die beste Rechtfertigung unter gleichgestellten Menschen stützt. So gesehen verweist die Frage nach der Solidarität auf die umfassendere Frage, wie wir uns als moralische Wesen verstehen sollten."

Mit anderen Worten: Der neue Band bietet einen guten Einstieg in Forsts politisches Denken, er belegt das Interesse des Theoretikers an der politischen Gegenwart und ist in den historischen und systematischen Bezügen stets klar. Dass er darüber hinaus theoretische Möglichkeiten eröffnet, sich in der neuen europäischen Wirklichkeit argumentativ zu bewegen, ist nicht sein geringstes Verdienst. "Verbundenheit" als Bestimmungsgröße für das "moralische Wesen" von Menschen - das ist - genau besehen - ein radikalerer, ein sozialerer Ansatz, der weit über das hinaus geht, was viele andere zur Zeit zu denken wagen.

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