"Es gibt keinen Grund", hat die soeben mit der wichtigsten Architekturauszeichnung gewürdigte Architektin Anne Lacaton im SZ-Interview vor einigen Jahren gesagt, "warum ein Raum mit guter Qualität viel kosten muss." Deshalb spricht sie auch nicht gern vom sozialen Wohnungsbau, der gerade weltweit zur Mangelware wird. Auch in Deutschland, wo die Wohnungen in den Metropolen (jedenfalls für viele Menschen) schon coronabedingt immer beengter werden - trotz der durchschnittlichen Zunahme von Wohnraum seit Jahrzehnten. Sie werden auch immer unerschwinglicher und gleichzeitig, das ist der Skandal im Skandal, immer hässlicher und dysfunktionaler. Das Leben darin gleicht mehr denn je der Logistik genormter Flachware. Wohnbauten werden bald nicht mehr zu unterscheiden sein von Amazon-Hallen.
Die Pandemie hat auch die Schwächen unseres Wohnsystems bloßgestellt. Menschen, die in millimeterweise berechneten, standardisierten, ja schäbig errichteten Wohnmaschinen weggesperrt werden, sehnen sich nach ihrer Befreiung. Und so wie es eine Theologie der Befreiung gibt (oder gab), gibt es auch eine Architektur der Befreiung. Das Büro Lacaton & Vassal ist ein Vertreter solchen Denkens, das sich weder in einem erratischen Design-Futurismus - noch in rekonstruktionsverliebter Nostalgie erschöpft. Dass Planung etwas mit Ethos zu tun hat und von sozialer und politischer Bedeutung ist: Man hatte das fast vergessen.
Verblüffend simpel, aber reich an Komplexität und Möglichkeitssinn
Anne Lacaton, geboren 1955 in Saint-Pardoux, und ihr Büropartner Jean-Philippe Vassal (Casablanca, 1954), dem der mit 100 000 Dollar dotierte Preis gleichermaßen zugesprochen ist, ein Tribut auch an den Teamgedanken, bauen keine Sozialwohnungen, sondern preiswerte Wohnungen - nicht als Überlebens-, sondern als Lebensräume. Es geht ihnen um ein Dasein, das der Umwelt und der Menschenwelt gerecht wird. Das human ersonnen, ökologisch durchdacht und ökonomisch begründet ist. Die Bauten von Lacatan & Vassal sehen oft verblüffend simpel aus. Bisweilen schroff. Sie sind aber tatsächlich reich an Komplexität und Möglichkeitssinn. Letztlich sind die Bauten, die seit 1984 entstanden sind, das genaue Gegenteil von Design. Nämlich Raumkunst. Also Architektur als solche.
Der Pritzker-Preis, der in den letzten Jahren nicht immer unumstritten war und seit 1979 meist an ältere männliche Stararchitekten gegangen ist (in gut vier Jahrzehnten finden sich, einschließlich Anne Lacaton, gerade mal sechs Frauen unter den Preisträgern), wird auf diese Weise wieder relevant. Es ist eine kluge Entscheidung, die von der Jury unter Vorsitz von Alejandro Aravena, Chile, getroffen wurde. Mit Lacaton & Vassal wird das Wohnen zum Thema. Und auch, kaum weniger wichtig, die Transformation.
Das passt, man muss es so sagen, wie die Faust aufs Auge. Aktuell zirkuliert ein "Energieeffizienz-Erlass" durch die deutsche Baubürokratie, der so absurd ist, dass er sich als Abriss-Erlass für Gebäude der öffentlichen Hand erweisen könnte. Das behördliche Vorgehen zielt vor allem auf die Dämmwerte von Fassaden. Statt den gesamten Haus-Lebenszyklus in den Blick zu nehmen. Diese Neigung zur Abrissbirne, mit der alte Bausubstanz und identifikatorische Werte zu Bauschutt gemacht werden, steht angeblich im Dienste eines Umweltschutzes - der aber zum Umweltfrevel wird. Gute Architektur zeigt, wie es anders geht. Die Pariser Architekten sind Pioniere des Bewahrens und der Umnutzung.
Der Pritzker-Preis, gestiftet von Jay A. Pritzker (Hyatt-Hotelkette), wird jedes Jahr verliehen. Laut Satzung, um Architektinnen und Architekten zu ehren, deren Kunst "einen bedeutenden Beitrag für die Menschheit und die gebaute Umwelt darstellt". In genau diesem Sinn sind Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal würdige Preisträger.