In deutschen Städten sieht man sie an jeder zweiten Ecke: Brachen, wo eben noch große Wohn- oder Büroblocks standen. Der Protest gegen den Abriss der Gebäude aus den Sechziger- und Siebzigerjahren ist oft gering: Die Architektur hat keine große Lobby, dafür einen schlechten Ruf. Viele verbinden sie mit großen Betonkolossen, mit unmenschlichen Satellitenstädten, schlechter Konstruktion und maroden Materialien.
Zu Unrecht, sagt die Architektin Anne Lacaton. Mit ihrem Büropartner Jean Philippe Vassal hat die 58-jährige Pariserin sich darauf spezialisiert, solche Abrisskandidaten in glamouröse Wohnquartiere zu verwandeln.
Bekannt wurde das Büro mit radikalen Umbauten, etwa dem Palais de Tokyo, einem Museum für zeitgenössische Kunst in Paris, das den Charme einer Rohbauruine hat und gerade dadurch moderner Kunst den nötigen Raum lässt. Und dem Einsatz extrem günstiger Baumaterialien: Für den Documenta-Pavillon im Jahr 2007 verwendeten Lacaton und Vassal Fertigbauteile, mit denen man sonst Gewächshäuser baut.
"Die Moderne wurde nie akzeptiert"
Für ihr Buch "Plus", ein Manifest gegen den Abriss moderner Wohnblocks, untersuchten sie 2004 öffentlichen Wohnungsbau. Damals befand sich Frankreich vor einer gigantischen Abriss-Welle. Die Regierung hatte gerade entschieden, 150.000 Wohnungen abzureißen und wieder neu aufzubauen.
Die Architektur der Moderne steht also nicht nur in Deutschland auf der Abrissliste. Die Architektin Anne Lacaton kennt das Phänomen aus vielen Ländern - und auch die Argumente, die immer wieder dafür verwendet werden, warum ein Gebäude abbruchreif sei.
Doch dem kann sie nicht zustimmen. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (in der heutigen Ausgabe) erklärt sie: "Gebäude, die vor 50 Jahren gebaut wurden, sind noch nicht am Ende ihres Lebens." Es mache keinen Sinn, "ein Haus abzureißen, um ein nachhaltigeres dort neu aufzubauen. Durch den Abriss verschwendet man viel Energie und Material, die man noch nutzen hätte können."
Warum die Architektur der Moderne so kritiklos der Abrissbirne zum Opfer fällt, erklärt Lacaton damit, dass "die Moderne nie akzeptiert wurde". Deswegen werde "überall versucht, sie auszulöschen, dabei war diese Epoche sehr wichtig für die Architektur".
Einsatz neuer Materialien
Ihre Freiheit erlaube den Bewohnern, die Räume so zu nutzen, wie sie wollen. Ihre offene Struktur ermögliche es den Architekten heute, sie ohne große Probleme umzubauen und mit Balkonen oder Wintergärten so auszustatten, dass dadurch luxuriöse Wohnqualitäten entstünden. "Das verändert die Qualität dieser Häuser radikal", so Lacaton im Interview - und zwar bei der Hälfte der Kosten, die für einen Neubau zu veranschlagen wären.
Ihr Büro beschäftigt sich zwar viel mit sozialen Wohnungsbau, doch den Begriff selbst mag Anne Lacaton nicht: "Ich spreche lieber über Wohnungsbau, denn der impliziert Wohnqualität, die nichts mit einer Zielgruppe oder einem gewissen Budget zu tun hat." Einen knappen Kostenrahmen akzeptiert sie denn auch nicht als Begründung für schlechte Architektur: "Es gibt keinen Grund, warum ein Raum mit guter Qualität viel kosten muss."
Wie auch mit wenig Geld ein luxuriöser Wohnraum entstehen kann, hat sie gleich bei ihrem ersten Haus vor 20 Jahren gelernt. Weil das Budget so knapp war, mussten sie sich neue Lösungen einfallen lassen, wie sie den Raum gestalten und welche Materialien sie einsetzten. "Nichts war verboten. Wir konnten machen, was wir wollten. Das einzige Ziel war, ein großes Haus mit wunderschönen Räumen für das knappe Budget zu entwerfen."
In den zwanziger Jahren machten sich die besten Architekten der Welt, von Walter Gropius über Mies van der Rohe bis Le Corbusier, Gedanken, wie guter Wohnungsbau für Arme entstehen könnte. Für Anne Lacaton ist es an der Zeit, diese Ambitionen und Visionen wiederzuentdecken, denn: "Wohnungsbau ist die wichtigste Aufgabe der Gegenwart."
Das vollständige Interview lesen Sie in der Donnerstagsausgabe der Süddeutschen Zeitung oder auf dem iPad.