Polnischer Antisemitismus im Film "Poklosie":Exorzismus des Gewissens

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Der polnische Schauspieler Maciej Stuhr am Set von "Poklosie", was soviel heißt wie "Ernte", aber auch mit "Nachspiel" übersetzt werden kann. (Foto: REUTERS)

Die Handlung von "Poklosie" greift ein Geschehen auf, das 60 bis 70 Jahre zurückliegt: Pogrome gegen Juden in Polen. Es ist ein Film der Übertreibungen und Zuspitzungen, nicht der Reflexion - und wirft in der polnischen Bevölkerung die Frage auf: Wie antisemitisch waren wir?

Von Klaus Brill

Am Ende hängt Józef Kalina, der Störenfried, auf der Innenseite des eigenen Scheunentors, hingenagelt wie Jesus ans Kreuz. Jetzt spätestens wird jeder gemerkt haben, dass dies ein Film der Übertreibungen und Zuspitzungen ist, nicht der Reflexion. Sein Schöpfer setzt auf eine Klärung, die aus der Symbolkraft brutaler Bilder und der Angstspannung eines ländlichen Horrorfilmes rührt, nicht aus dem Feinsinn wohlgesetzter Dialoge. "Poklosie" heißt das Werk des polnischen Regisseurs Wladyslaw Pasikowski, das jüngst in die Kinos kam und eine neue furiose Diskussion über das Selbstverständnis der Polen entfesselt hat.

Der Begriff "Poklosie" entstammt der bäuerlichen Lebenswelt und bezeichnet die Ährenlese auf dem Feld; er kann auch mit Ernte oder Nachlese übersetzt werden. Oder so: Ein Nachspiel. Die Handlung spielt in jüngster Vergangenheit und greift ein Geschehen auf, das 60 bis 70 Jahre zurückliegt: Pogrome gegen Juden in Polen. Das bekannteste solche Vorkommnis war das Massaker von Jedwabne.

In dieser Kleinstadt im Nordosten des Landes waren am 10. Juli 1941, zur Zeit der deutschen Besatzung, etwa 300 bis 400 Juden von ihren katholischen Mitbewohnern zusammengetrieben, misshandelt und in einer Scheune verbrannt worden. Ähnliche Gräueltaten wurden auch aus anderen Orten bekannt. Auch nach dem Krieg noch kam es am 4. Juli 1946 in Kielce in Südostpolen zu einer Zusammenrottung. Über 40 Juden wurden totgeschlagen und 80 weitere verletzt, sie hatten gerade erst die Todeslager der Deutschen überstanden.

Zu den Verbrechen der Nazis gibt es, wohlgemerkt, keine Parallelen. Die Deutschen haben zwischen 1939 und 1945 systematisch sechs Millionen Polen umgebracht, darunter drei Millionen Juden. Zigtausende weitere polnische Juden aber wurden von christlichen Landsleuten unter Lebensgefahr versteckt und gerettet, es gab dafür eigene Hilfsorganisationen. Unter den "Gerechten unter den Völkern", die in Israel für solche Taten geehrt werden, ist keine Nation stärker vertreten als die Polen. Dies gilt es zu bedenken, wenn man Pogrome wie die in Kielce und Jedwabne oder auch die antisemitischen Kampagnen der kommunistischen Machthaber gleich nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1950er Jahren richtig einordnen will.

Ein Ort fiktiver Verdichtung

Noch 1968 gab es eine neue Welle der Verfolgung, damals verließen bis auf wenige Verbleibende quasi die letzten Juden das Land. Unter ihnen war der 1947 in Warschau geborene Jan Tomasz Gross, der in den USA Professor für Politikwissenschaft wurde. Er kam 2001 mit dem Buch "Nachbarn" zurück, das den Mord an den Juden von Jedwabne behandelte und eine erregte Debatte entfachte. Polnische Historiker bestritten Detailangaben und erklärten, das Verbrechen sei von den Deutschen angestoßen worden. Jedenfalls fand in Jedwabne eine Gedenkfeier statt, bei der der Staatspräsident Aleksander Kwasniewski um Vergebung bat, und Polens katholische Bischöfe hielten einen Sühnegottesdienst.

Das Dorf im Film ist erkennbar nicht Jedwabne, sondern ein Ort fiktiver Verdichtung, denn was der Filmemacher Wladyslaw Pasikowski bezweckt, geht über den Historikerstreit hinaus. Er will die Massen erreichen, und dass er dazu in der Lage ist, hat er mit Filmen wie "Psy" (Hunde) oder "Reich" bewiesen. An Andrzej Wajdas "Das Massaker von Katyn" war Pasikowski als Drehbuchautor beteiligt, sein Kameramann Pawel Edelman hat ebenfalls für Andrzej Wajda und Roman Polanski gearbeitet, so bei "Der Pianist". Wajda und Polanski gaben "Poklosie" jetzt ihre kollegiale Anerkennung mit auf den Weg, und Polens Kulturminister Bogdan Zdrojewski erklärte: "Ich bewundere den Mut, dieses schwierige Thema aufzugreifen."

Die Filmemacher tun es mit den Mitteln des Action-Kinos. "Poklosie" ist ein Thriller, der fesselt und zur Anteilnahme an den verwegenen Aktivitäten des Józef Kalina und seines Bruders Franciszek nötigt. Franciszek, ein Emigrant, kehrt nach 20 Jahren Abwesenheit aus Chicago ins Heimatdorf im polnischen Hinterland zurück, wo Józef allein auf dem elterlichen Bauernhof lebt, im Konflikt mit dem Dorf. Er hat jüdische Grabsteine entdeckt, die als Straßenbelag verbaut wurden, auch im Pfarrgarten dienen sie, die Schrift nach unten gekehrt, als Gehweg. "Das ist nicht in Ordung", sagt Józef instinktiv. Er sammelt die Grabsteine nachts ein, stellt sie in seinem Weizenfeld auf und säubert sie. "Ich konnte nicht anders", meint er, als der Bruder nach den Beweggründen fragt.

Mit Hasstiraden bekübelt und der Verleumdung Polens bezichtigt: Regisseur Wladyslaw Paikowski (r.), hier im Gespräch mit dem Schauspieler Ireneusz Czop. (Foto: REUTERS)

Die beiden forschen nach der Herkunft der Steine und dem Schicksal der Juden, die früher als Nachbarn im Dorf lebten, und je weiter sie kommen, desto deutlicher werden die anonymen Warnungen aus dem Hintergrund. Ein Stein fliegt durchs Fenster, ein Auto auf der Landstraße kommt gefährlich nahe, dann wird in Abwesenheit der Hofhund massakriert, auf die Stalltür ist ein Judenstern gemalt.

Im Grundbuchamt erfährt Franciszek: das Bauernland hat früher den Juden gehört, auch das eigene Elternhaus. In sturmgepeitschter Regennacht graben die Brüder Gebeine aus, hier hat ein Massaker stattgefunden. Unbeirrt suchen sie nach Zeitzeugen und bedrängen sie, bis am Ende die grausame Erkenntnis steht: das ganze Dorf hat zugesehen, der eigene Vater war beteiligt. Deutsche waren nicht dabei.

Erzählt wird augenfällig und direkt, bis an den Rand der Verkitschung, die damit erzeugte Emotionalität ist bezweckt. Pasikowski wühlt die Gemüter auf. Er sät Wind, und er erntet Sturm. Maciej Stuhr, der Hauptdarsteller in der Rolle des Józef, wurde im Internet mit Hasstiraden bekübelt, der Beschmutzung und Verleumdung Polens bezichtigt. "Aber ich liebe Polen doch", wehrte er sich entgeistert in einem Fernsehinterview. Der Regisseur Pasikowski reagierte zornbebend mit einem Aufruf an alle, die den Film gut finden, sich zu Wort zu melden. Der leidenschaftliche Diskurs belegt, dass Polen im gesellschaftlichen Selbstfindungsprozess weiter fortgeschritten ist als jedes andere postkommunistische Land. Auch die Slowakei und Rumänien zum Beispiel hätten Anlass, sich in ähnlicher Weise mit der Judenverfolgung in ihrem Land zu befassen, die dort viel schlimmere Ausmaße hatte, doch über zaghafte Ansätze kommt man nicht hinaus.

Brutalisierung durch den Krieg

In Polen reagiert das nationalkatholische Lager erwartungsgemäß mit krasser Ablehnung. "Der Film ,Poklosie' wird für die Welt ein weiterer Beweis sein, dass die Polen am Holocaust mitbeteiligt waren", schreibt der Publizist Piotr Semka im Magazin Uwazam rze, das auf der Titelseite unter der Schlagzeile "Wie die polnische Erinnerung ausgelöscht wird" eine Karikatur bringt, in der dem polnischen Adler ein Stein an den Hals gehängt wird, um ihn im Meer zu ertränken.

Im selben Heft legt der Historiker Piotr Zychowicz dar, warum er den Film für fatal einseitig hält, wenn auch die Quellen keinen Zweifel ließen, dass ein Teil der Polen sich im Zweiten Weltkrieg gegenüber den Juden sehr gemein verhalten habe. Indes gibt er zu bedenken: in Jedwabne, das im September 1939 von den Sowjets besetzt wurde und erst im Sommer 1941 unter die Fuchtel der Deutschen kam, hätten einige Juden mit den Russen kollaboriert und ihnen christliche Nachbarn ans Messer geliefert. "Als 1941 die Bolschewiken flüchteten, nahm ein Teil der Polen blutige Rache." Außerdem: "Die dörflichen Judenmörder waren das Produkt der deutschen Besatzung und der Brutalisierung durch den Krieg." Die polnische Gesellschaft sei damals durch Massenmorde der Deutschen und der Russen ihrer Elite beraubt gewesen - auch dies ein bedenkenswerter Faktor im Geschehen jener Zeit.

Die Verteidigung des Films orchestriert die Zeitung Gazeta Wyborcza als Flaggschiff des neuen, liberalen Polen. Seit zwei Wochen bringt sie eine ganze Serie von Artikeln, auch auf Seite 1, und bietet unterschiedlichste Fachleute auf. Der Filmkritiker Tadeusz Sobolewski hat in einem Satz zusammengefasst, warum "Poklosie" nach seiner Meinung so gut und wichtig ist: "Der Film ist ein Exorzismus unseres Gewissens."

© SZ vom 02.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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