Mordfall Lübcke:Was, wenn niemand mehr den Job machen will?

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Der Sarg des ermordeten Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) bei einem Trauergottesdienst in der Martinskirche in Kassel. (Foto: dpa)

Wenn politische Mandatsträger angegriffen werden, ist das ganze System in Gefahr. Politiker verdienen jetzt eine Solidarität, die über das Symbolische hinausgeht.

Von Gustav Seibt

Ein Kopfschuss aus nächster Nähe bei einem Politiker, der jahrelang mit Drohbotschaften überzogen worden war: Das sah von Anfang an aus wie ein Fememord. Und so wurde die Tat auch aufgenommen, als ersetze die Art ihrer Ausführung ein Bekennerschreiben. Die rechtsextremen Kreise, die zuvor gegen Walter Lübcke gehetzt hatten, jubilierten nun über seinen Tod. Wie immer die Ermittlungen ausgehen, schon die ersten Reaktionen lassen in einen Abgrund blicken. Es gibt gut sichtbare Teile dieser Gesellschaft, die den Mord an einem politischen Amtsträger öffentlich gutheißen.

Damit kommen kaum vermeidbar Erinnerungsgespenster aus der frühen Weimarer Republik zurück, in der nach jahrelanger Hetze Spitzenpolitiker wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau auf offener Straße erschossen wurden - von nationalistischen Rechten, die jede Zusammenarbeit mit den Siegern des Ersten Weltkriegs als Verrat am Vaterland verurteilten und Rathenau auch als Juden hassten. Diese schockierenden Morde beendeten den virulenten Rechtsterrorismus noch lange nicht: Er ging jahrelang weiter, mit Bombenanschlägen auf Rathäuser etwa, die der Schriftsteller Ernst Jünger als "Klopfzeichen" verharmloste und guthieß.

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"Der Feind steht rechts", hieß es damals. Wer an die lange Serie von Mordanschlägen und Angriffen auf Migranten und Flüchtlinge, das Dauergepöbel gegen politische Amtsträger seit vielen Jahren denkt, mag die Lage heute in solchen Reminiszenzen spiegeln. Der Abgrund ist tief, er verlangt nun nach konsequenter Polizeiarbeit. Doch vielleicht kommt die zweite Gefahr unscheinbarer daher, aber umso bedrohlicher.

Erinnert sich noch jemand an Tröglitz? Das ist der kleine Ort im Süden von Sachsen-Anhalt, dessen Bürgermeister im März 2015 zurücktrat, nachdem er und seine Familie monatelang wegen eines geplanten Flüchtlingsheims bedrängt worden waren. Wenig später brannte der Dachstuhl des Heims. Die Fälle von Henriette Reker, die 2015 nach einer Messerattacke während ihres Wahlkampfs um das Amt der Oberbürgermeisterin in Köln knapp dem Tod entrann, und des CDU-Bürgermeisters von Altena, Andreas Hollstein, der 2017 ebenfalls mit einem Messer angegriffen wurde, sind noch nicht vergessen. Mitte 2017 zog sich der SPD-Politiker Erich Pipa vom Amt des Landrats im Main-Kinzig-Kreis zurück, nachdem auch er jahrelang wegen seines Einsatzes für Flüchtlinge Drohbriefe bekommen hatte.

An der Basis ist das politische System ziemlich wehrlos

Landräte und Regierungspräsidenten gibt es viele Dutzende in Deutschland, Gemeinden wie Tröglitz mit knapp dreitausend Einwohnern mehr als tausend. Altena hat knapp 17 000 Einwohner, die Anzahl der Gemeinden mit zwischen zehn- und zwanzigtausend Einwohnern liegt bei genau 889. Es ist kaum vorstellbar, eine so enorme Zahl von politischen Mandatsträgern umfassend zu schützen.

Das versetzt die Sicherheitsbehörden in begreifliche Unruhe: An der Basis ist unser politisches System ziemlich wehrlos. Sollen sich Bürgermeister und Landräte nicht mehr auf Dorffeste trauen können, wenn sie Entscheidungen treffen, die einem radikalisierten Teil der Bürgerschaft nicht gefallen? Das hätte verheerende Folgen fürs Funktionieren von Politik und kommunaler Selbstverwaltung.

Denn je größer und anhaltender das Gefühl von Unsicherheit würde, desto mehr würde es in Gefahr bringen, was man die Rekrutierung des politischen Personals nennt. Wer soll uns regieren? Das ist alles andere als eine triviale Frage. In der Demokratie sind die von vielen so verächtlich betrachteten Parteien die wichtigsten Orte solcher Rekrutierung. Das Parteileben wie später der parlamentarische Betrieb in Ortsbeiräten, Gemeinderäten, Bezirksversammlungen, Abgeordnetenhäusern, Landtagen und Bundestag schult jene Berufspolitiker, von denen am Ende eine kleine Gruppe bis in die Regierung des Landes aufsteigt. Wer diesen Quellgrund des Politischen angreift, gefährdet das System.

Diese Laufbahnen sind entgegen dem Gerücht von Faulheit und Selbstherrlichkeit der Politik, wie es derzeit vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums genährt wird, steinig und erst einmal glanzlos. Schon die Wahlkämpfe mit unmittelbarem Kontakt zu den Bürgern (Tische mit Schirmen in der Fußgängerzone) sind inzwischen Gelegenheiten, sich Spott und Beschimpfungen einzufangen.

Wer will sich das antun? Auch in besseren Abendgesellschaften wird, wer sich als Politiker zu erkennen gibt, nicht durchweg warmherzig aufgenommen. So wie man dort den Arzt nach Symptomen befragt, so weiß jeder am Tisch, wie es besser ginge. Dann kommt ein millionenfach geklicktes Video und macht alle kleinen Terraingewinne eines altmodischen Wahlkampfs vor Ort zunichte. Wenn nicht in wenigen Jahren entschieden durchgegriffen wird, dann wird der Klimawandel irreversibel.

Die Häme, der sich die Berufspolitik ausgesetzt sieht, ist vor allem Ungeduld

Selbstverständlich ist Kritik im demokratischen Streit erwünscht. Ganz ohne Drama geht es sowieso nicht. Sogar Widerstand gegen ein Flüchtlingsheim ist, solange er gewaltfrei bleibt, nicht verboten, auch wenn mancher moralisch die Nase rümpft. Beunruhigend ist der Grad der Enthemmung bis zur Gewaltsamkeit. Offenbar geht in einem Teil der Gesellschaft das Bewusstsein davon verloren, dass die republikanisch verfasste Demokratie mit ihren in Jahrhunderten entwickelten prozeduralen Umständlichkeiten Tugenden voraussetzt wie Geduld, Affektbeherrschung, Bereitschaft, mit anderen Standpunkten und Interessen zu leben.

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Von Barbara Galaktionow

Armin Nassehi hat in einem Interview mit der taz darauf hingewiesen, dass Politik heute nur noch erfolgreich sein kann, wenn sie die Eigenlogik gesellschaftlicher Teilsysteme gelten lässt und in ihren Dienst nimmt und fürs Interesse der Allgemeinheit einspannt. Das ist oft schwer zu verstehen und für viele moralisch kaum zu ertragen. Die Häme, der sich die umständliche, scheinbar schwerfällige und altmodische Form der Berufspolitik ausgesetzt sieht, ist vor allem eines: maximal gesteigerte Ungeduld. Das populistische Klima, das sich inzwischen überall ausbreitet, setzt auf die Instantverwirklichung von scheinbar unabweisbaren Anliegen.

Dabei wird auf der rechtsextremen Seite mit grotesken Notstandsszenarien ("Herrschaft des Unrechts", "Umvolkung") operiert, auf der linken mit moralischer Unbedingtheit. Gewiss, die Verhältnisse sind keineswegs symmetrisch: Die Zeiten des linksradikalen Terrorismus sind lange vorbei. Heute steht der aggressivste Feind der demokratischen Ordnung rechts. Die AfD hat mit Björn Höcke und anderen Vertretern des "Flügels" sogar Parlamentarier, die die Notstandsrhetorik ihrer Partei mit Gewaltfantasien flankieren.

Das Internet ermöglicht die Intensivierung von Hass einerseits und eine Ersatzpolitik für alle andererseits

Alle diese Probleme werden unvermeidlich mit den Möglichkeiten des Internets in Verbindung gebracht. Das ist zweifellos zutreffend, doch sollten sie genauer identifiziert werden. Die oft besprochene Intensivierung von Hass, die ungeheuer erleichterte Verbreitung von emotionalisierenden Nachrichten, Gerüchten und puren Erfindungen ist das eine. Das andere Problem liegt womöglich tiefer. Es besteht in den schier grenzenlos gesteigerten Möglichkeiten symbolischen politischen Handelns, also einer Art Ersatzpolitik, die jedem und jeder Einzelnen offensteht.

Eine zugespitzte Botschaft, eine moralische Positionierung, spontaner Ausdruck von Meinungen, Empörung und Wut, vernichtende Witze sind schnell geschnitzt, die Menschen werden immer versierter darin. Viele, auch Gutwillige, halten das schon für Politik; man hat ja am "demokratischen Diskurs" teilgenommen und Druck gemacht. Soll die Berufspolitik dann schauen, wie sie die Forderungen umsetzt. Und natürlich werden auch die professionellen Politiker in den Strudel der Dauerkommunikation gezogen; das florierende Genre der Social-Media-Kritik wird vor allem auf sie angewendet: mein Gott, wie hinterwäldlerisch.

Aus all dem aber entsteht zunächst nicht mehr als große Gereiztheit. Wenn es aber ernst würde und niemand den Job mehr machen wollte, vor allem nicht an der verwundbaren Basis? Dann würde man entdecken, dass Demokratie vom Fordern und Schimpfen allein nicht leben kann. Vor zwei Jahren hat der Staatsrechtler Christoph Möllers die bürgerliche Mitte aufgefordert, wieder in die politischen Parteien zu gehen. Hier kann jeder, der unzufrieden ist, den Maschinenraum demokratischen Handelns betreten und zuallererst kennenlernen. Wenn Politiker vor Ort bedroht, gar ermordet werden, wenn die Grundvoraussetzung der Ordnung, das staatliche Gewaltmonopol herausgefordert wird, dann ist es Zeit für eine Solidarität, die sich nicht im Symbolischen erschöpft.

© SZ vom 19.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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