Pier Paolo Pasolini zum 100. Geburtstag:Archaische Visionen

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Maria Callas in dem Film "Medea", den Pier Paolo Pasolini im Jahr 1969 drehte. (Foto: Mary Evans/imago images)

Das Kino war ihm immer sekundär - und doch entfalten Pier Paolo Pasolinis archaische Visionen auf der Leinwand bis heute ihre Kraft.

Von Fritz Göttler

Müssen wir uns Pier Paolo als einen unglücklichen Menschen vorstellen? Dieser lebenslange Hass auf das italienische Kleinbürgertum, von dem er loskommen wollte, die Anfeindungen, denen er sich als Homosexueller ausgesetzt sah, der Fanatismus, mit dem die bürgerliche Gesellschaft seine Filme attackierte, unter dem Vorwurf von Blasphemie, von Pornografie. Diese Einsamkeit, diese Unsicherheit. Die Jungs aus dem römischen Subproletariat liebte er, aber das Proletariat als Klasse blieb ihm fremd. Manchmal war ihm die eigene Intellektualität suspekt, dann wurden seine Formeln böse und scharf bis zur Unerträglichkeit. Hedonistischen Faschismus nannte er die moderne Konsumgesellschaft. Was die Kleidung anging, befand sein Freund, der Schriftsteller Alberto Moravia, hatte er einen fürchterlichen Geschmack, Krokodillederschuhe, bunt getupfte Pullover oder Badehosen.

Das Kino war Pasolini immer sekundär, zuerst kam für ihn das Schreiben, kraftvolle, innige Gedichte und Erzählungen oder böse Kolumnen in den großen italienischen Zeitungen. Dass er in Frankreich als Schreiber überhaupt nicht wahrgenommen wurde, hat ihn, wenn er nach Paris kam, befremdet. Zum jungen Kino dort, der Nouvelle Vague, blieb er auf Distanz, anders als sein Freund Bernardo Bertolucci, der sich schnell mit den Jungs der Cahiers du Cinéma zusammentat. Mit Bertolucci - der Assistent bei seinem ersten Film "Accattone" war - wohnte Pasolini im selben Haus in Rom. Jeden Morgen nahm er ihn mit zum Dreh, in seinem Alfa Romeo, und auf der Fahrt erzählte er ihm die Träume der vorhergehenden Nacht. Später, als sie an benachbarten Drehorten im Norden Italiens ihre Filme "Novecento" und "Salò" drehten, brutale Abrechnungen mit dem Faschismus, haben die beiden Teams abends Fußball gegeneinander gespielt.

Ein Kino der Poesie wollte Pasolini schaffen, und das sollte, sagte er, unbedingt ganz einfach, populär sein: "Wissen Sie, die Technik, das ist ein Mythos." In "Accattone" filmt er so, viele Großaufnahmen, wenig Kamerabewegungen. "Das ist meine Art, die Realität wie eine sakrale Erscheinung zu sehen. Und die Sakralität ist sehr einfach." Es ist nur logisch, dass zu den Filmen, die er kurz darauf machte, eine Dokumentation gehört, in der er auf der Straße Leute zu Liebe und Sex befragt, und dann "Das Evangelium nach Matthäus".

Irgendwann identifiziert er den Hauptfeind - den "Konsumismus" der Gegenwart

Das Kino war ein archaisches Feld für ihn, Terrain der Mythen - erst jener des römischen Subproletariats, später dann der großen antiken Sagen, ein Film über Ödipus, einer über Medea, mit Maria Callas als Matriarchin, ein Fremdkörper in der agrarischen Urgesellschaft mit ihren Höhlen und welligen surrealen Bauten. Eine Diva, die leidenschaftlich begehrt und vornehm-kühl Menschenopfer überwacht. In Afrika suchte er Darsteller für eine afrikanische Orestie ("Appunti per un'orestiade africana" ). In drei Filmen feierte er schließlich die Liebe, die Freiheit, den Orgasmus, nach drei Werken der Weltliteratur, Boccaccio, Chaucer und den Märchen aus "Tausendundeiner Nacht".

Im Juni 1975 schrieb er dann einen Widerruf dieser Trilogie des Lebens, im Corriere della Sera: "Inzwischen hat sich aber alles ins genaue Gegenteil verkehrt. Erstens: Der progressive Kampf gegen Zensur und der Kampf für sexuelle Freiheit sind rücksichtslos weggefegt worden, da sich der Konsumismus entschlossen hat, eine breite (und damit grundfalsche) Toleranz zu gewähren. Zweitens: Auch die 'Realität' der unschuldigen Körper ist vom Konsumismus vergewaltigt, manipuliert, unterjocht worden, genauer gesagt, diese Gewalttätigkeit dem menschlichen Körper gegenüber ist zum universellen Merkmal der neuen Menschheitsepoche geworden." Eine bittere Abrechnung mit dem Anything Goes, das die Postmoderne propagierte. Pasolini arbeitete an "Salò o le 120 giornate di Sodoma", nach dem Roman von de Sade. Im November wurde er am Strand in Ostia brutal umgebracht, der Mord ist bis heute nicht restlos aufgeklärt.

"Salò" ist monströs und pervers, vier großbürgerliche Faschisten ziehen sich bei Kriegsende in eine Villa zurück, wo sie junge Menschen erniedrigen, quälen, foltern. Das Archaische ist barbarisch in Pasolinis Filmen, immer wieder Menschenopfer und Kannibalismus. "Ich habe meinen Vater getötet, ich habe Menschenfleisch gegessen und ich zittere vor Freude", konstatiert der Wilde im bizarren Pamphletfilm "Porcile". Dass die Kultur das archaische Leben zivilisiert, zugleich aber auch entfremdet und kaputtmacht, diese Zerrissenheit prägt Pasolinis Filme, bringt das Trauma seines Lebens hervor und die Erkenntnis: "Es ist besser, die Menschen zu Feinden zu haben als die Götter."

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