Pier Paolo Pasolini "Rom, Rom":Ein römischer Flaneur

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Pier Paolo Pasolini (1922-1975) in den Sechzigerjahren in der Pasticceria Rosati in Rom. (Foto: imago/Leemage)

Pier Paolo Pasolini hat Rom wie ein Wahnsinniger geliebt. In seinen frühen Erzählungen über diese Stadt wird ein Autor sichtbar, den man so noch kaum kannte.

Gastbeitrag von Olivier Guez

Pier Paolo Pasolini war nicht immer so wütend wie in den "Freibeuterschriften". In denen teilte er aus gegen die Konsumgesellschaft, den Kulturverfall, die zunehmende Produktion von Überflüssigem, kurz, er schimpfte auf die allmähliche Amerikanisierung der italienischen (und überhaupt der westlichen) Gesellschaft der 1960er Jahre. Auch war Pasolini nicht schon immer ein vormoderner Kommunist gewesen. Nicht schon immer misstrauisch allen Linksextremen gegenüber, diesen Bürgerkindern, von denen er dachte, dass sie keine Ahnung von der Realität der Proletarier haben, und nicht immer skeptisch der sexuellen Revolution gegenüber (nur das so-und-so-vielte Ereignis in der Gesellschaft des Spektakels) und auch den langhaarigen Männern gegenüber - der Konformismus der Antikonformisten schien ihm viel zu en vogue, als dass er ernst gemeint sein könnte - und auch in Bezug auf die Abtreibung.

Auch war er nicht immer der schlüpfrige Cineast wie in "Die 120 Tage von Sodom". Und in Rom interessierte er sich für nichts so sehr wie für die Straßenjungen der Borgate, der riesigen Barackensiedlungen, die ohne Plan und Sinn für die Umgebung und weniger noch für den Städtebau der Nachkriegszeit hochgezogen wurden, von denen er in "Ragazzi di vita" erzählt und in "Accattone - Wer nie sein Brot mit Tränen aß", "Weichkäse" und "Mamma Roma". Das Buch und diese Filme, sie alle legten den Grundstein für seine Berühmtheit.

Um die Einsamkeit in den Griff zu kriegen, begann der junge Pasolini, inkognito das Großstadtleben zu erkunden

Lange bevor aus Pier Paolo "der Pasolini" wurde, also die etwas kitschige Ikone mit dem schwermütigen, bebrillten Gesicht, das heute Bars und Hausfassaden in Rom ziert, ein bisschen wie das von Kafka in Prag und das von Joyce in Dublin, war er, der angehende Schriftsteller still und leise mit seiner geliebten Mutter im Winter 1949 in Rom angekommen. Dieser Pasolini ist bisher wenig bekannt. In "Rom, Rom", einem Band von Erzählungen, die anlässlich des hundertsten Jahrestages der Geburt von Pasolini am 5. März im Wagenbach Verlag erscheinen, wird er den Lesern nun zugänglich.

Pasolini hatte aus dem Friaul, der Geburtsregion seiner Mutter, fliehen müssen, in das er sich während des Krieges zurückgezogen hatte, weil er wegen Sittenverstoßes und der Verführung Minderjähriger angezeigt worden war. Im Dezember 1950 wurde er zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Der junge Lehrer kam nach Rom und fand eine Unterkunft im Armenviertel, nur einen Steinwurf vom Marcellustheater, der Synagoge und der Piazza Mattei und dem berühmten Schildkrötenbrunnen entfernt. Er kannte niemanden oder zumindest fast, lebte in den Tag hinein, verdingte sich als Statist im Filmstudio Cinecittà, übernahm Korrekturarbeiten oder verfasste kleine Fingerübungen für die Rubrik "Sonstiges" in den Zeitungen. Um seinen Frust zu vertreiben und um die Einsamkeit in den Griff zu kriegen, begann er, inkognito das Großstadtleben zu erkunden. Er beobachtete die einfachen Leute, so wie er auch damals schon von den friaulischen Bauern begeistert gewesen war - in vielerlei Hinsicht...Auf seinen Streifzügen verließ Pasolini das Armenviertel, stieg in die Straßenbahn oder überquerte auf der Ponte Sisto den Tiber, um im Trastevere-Viertel zu flanieren, wo auch die meisten der Erzählungen in "Rom, Rom" angesiedelt sind.

"Der Tiber hinter ihm ist ein Abgrund, auf Seidenpapier gezeichnet"

Erzählungen, oder eher Fragmente, man könnte auch von Vignetten sprechen, die, großartig illustriert mit ausgewählten Fotografien von Herbert List und Henri Cartier-Bresson, die Leser in eine Welt der Männer führen, zu Jugendlichen, denen im Grunde alles vollkommen wurscht ist. In "Der Junge und Trastevere" geht es um einen, "der dunkel ist wie ein Veilchen, so dunkel, wie nur die Jungen aus Trastevere sein können", ein Röstkastanienverkäufer, der seine Kunden über den Tisch zieht. Dort heißt es: "Der Tiber hinter ihm ist ein Abgrund, auf Seidenpapier gezeichnet". Und die Tiberinsel liegt "zwischen dem nebelverhangenen Himmel und dem kadaverischen Tiber". In der Erzählung "Das Getränk" bietet einer dieser Jungen dem Erzähler eine Flasche Chinotto an. In "Der Glatthai" schminkt und parfümiert einer von ihnen, ein gerissener Lügner, einen verdorbenen schwarzen Fisch, pantscht ihn, um ihn zu verkaufen. In "Eine Bauerngeschichte" folgt der Erzähler Romano, "der achtzehn Jahre lang zwischen Blumen gelebt hat", und der zum ersten Mal nach Rom kommt.

All diese Texte dokumentieren eine Stadt, die es nicht mehr gibt

In seinen Vignetten taucht Pasolini ab in den grummelnden Magen des Stadtzentrums von Rom. Er schildert die Geräusche der Stadt, die Farben und Gerüche. Sein Auge und seine Feder funktionieren wie eine Kamera, schon streift der zukünftige Cineast umher. All diese Texte dokumentieren eine Stadt, die es nicht mehr gibt, ein Rom unmittelbar nach dem Krieg. In ihnen scheint auch die gesellschaftliche Einsamkeit, das Wilde und Ungezähmte auf, auch Pasolinis menschliche und sexuelle Offenheit, die er stets kurz danach in die Literatur zu überführen wusste .

Am Ufer des Tiber, unter den Pfeilern der Ponte Sisto faulenzen die Kinder oder machen "Kopf- und Fußsprünge von den Sockeln der Pfeiler" in den Fluss. Sie spielen Karten in der Bar auf der Pontonbrücke, sie rauchen im Zuschauersaal des Borgia Kino, "die Beine auf der Rückenlehne des Vordersitzes ausgestreckt". Kleine Jungen spielen auf dem Straßenpflaster des Campo de Fiori mit Murmeln. Im Stadion - Pasolini vergötterte das Fußballspiel - begegnet man Laufburschen, Markthändlern oder Krämern mit "von strotzender Gesundheit verblödete(n) Gesichter(n)". Hier "machen sie ihrem Römersein Luft". Ein kleines rotes Flugzeug umkreist das Innere des Stadions, "das riesige, knatternde Stofftuch mit der Werbung für die Brillantine Linetti hinter sich herziehend". Die Biegungen des Tiber sind "blau", der seidene Geruch "von Fenchel und Rauke" erfüllt die Stadt. Die Vormittagssonne duftet "noch ein wenig nach Kohl", sie ist "hauchzart, glühend" und "glasklar die von ihren Strahlen durchzogene Luft". Pasolini studierte, als er noch jünger war, in Bologna bei Roberto Longhi, dem berühmten Kunsthistoriker, der einst Caravaggio wiederentdeckt hatte: Die Farbtöne auf seiner Palette gleichen denen eines Malers, besonders deutlich ist das in der Erzählung "Studien über das Leben in Testaccio".

Deren Stil ist neo-realistisch, die Dolce Vita Fellinis (der bald schon ein Freund von Pasolini werden würde) noch lange nicht in Sicht. Die Flussufer sind voller Unkraut, Morast und Müll. In der Vorstellung des Autors ist die Stadt arm, tragisch und pikaresk. "Es stinkt nach Wäsche, die an den Balkonen der Gasse zum Trocknen aufgehängt ist, nach menschlichen Exkrementen auf den Treppen, die zum Tiber hinunterführen". Die Gebäude sind schwarz, die Fassaden von Trastevere und Testaccio finster. Im Kampf ums Überleben klauen die Jungen Obst. Sie sind mager und schlaksig, ihre Gesichter wirken blass, "olivfarben". Aber Pasolini stellt diese Jungen auch in ihrer Würde und Fröhlichkeit dar. In "Blendendes Rom" schlendern sie, "die jungen, halbwüchsigen Römer an den Tiberufern entlang, lachend, auf ihren Wangen den lebendigen Abendwind". Sein Blick ist niemals ironisch, auch nicht spöttisch, er ist zärtlich und mitfühlend, seine Subjektivität ist voll und ganz poetisch, nicht zu trennen von "einer gesellschaftspolitischen Bewusstheit, die von seinen eigenen finanziellen Problemen geschärft wurde", schreibt sein Biograf René de Ceccaty.

Pier Paolo Pasolini: Rom, Rom. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki u.a. Berlin 2022, Wagenbach. 120 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Pasolini hat Rom wie ein Wahnsinniger geliebt. Das Rom, das er in "Rom, Rom" beschreibt als besondere und beliebte Hauptstadt, nach wie vor proletarisch und sub-proletarisch geprägt, durcheinander und chaotisch, und dessen Protagonist das Volk ist. Er liebte die römische Seele, das stoisch-epikurianische daran, das in erster Linie auf einem gesunden Menschenverstand fußte, der wiederum mit Humor all das verdammte, was als Idealismus daherkommt, und auch auf der Sprache, dem "Romanaccio". Aber ab Mitte der 1960er Jahre verblasst seine Liebe mehr und mehr, bis es am Beginn des Folgejahrzehnts zu einer harten Trennung kommt: "Rom hat sich sehr zum Schlechten verändert ... Die Sache hat in dieser Stadt nicht ihren Ursprung genommen, sie gehört zu einem Phänomen des Verfalls, das die gesamte italienische Gesellschaft betrifft", erklärte er im Juni 1973 in der italienischen Tageszeitung Il Messagero. Die Stadt sei "nicht mehr wiederzuerkennen wegen der Massaker durch die Stadtplanung und den kulturellen Genozid", sie ähnele den unzähligen italienischen Kleinstädten: "kleinbürgerlich und kleinlich, katholisch, tief in Morast des Unauthentischen und Neurotischen steckend". Er ist hier sehr weit weg von der Erzählungssammlung, dem zärtlichen Ton und diesem Blick, der mitunter ganz verzückt ist über die Stadt und ihre Bewohner. Aber an einigen Orten existiert das Rom des jungen Exilanten Pasolini sogar noch, soweit ich als Neuzugezogener das beurteilen kann.

An einem Sonntagmittag in Frühling, muss man sich beispielsweise nur einmal zum Frühstück in der Trattoria al Biondo sul Tevere einfinden. Man wird dort Familien begegnen, die sich auf drei, manchmal vier Generationen hier vereint zusammenfinden, strenge Paare, die gerade aus der Messe kommen, oder einsame Fremde. Die typisch römische Küche, die hier angeboten wird, ist vorzüglich, die Atmosphäre locker, und die Aussicht auf den Tiber, von dieser Stelle aus wirkt er recht rau, ist fantastisch. Pasolini aß hier am ersten November 1975, dem Tag vor seiner Ermordung.

Aus dem Französischen von Miryam Schellbach.

Olivier Guez ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele".

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